Neubaustrecken braucht das Land – ein Weckruf

Europa fährt schnell Zug – Auch die Schweiz braucht einzelne Bahn-Neubaustrecken

Während in der Neuen Welt der wildeste Präsident aller Zeiten in seiner vierjährigen Amtszeit für sein Schienennetz weder einen Meter Hochgeschwindigkeitsstrecke eingeweiht noch zum Bau freigegeben hat, gehören auf dem alten Kontinent 300 km/h erreichende Züge heute zum Alltag. Verstopfte Strassen und überlastete Flughäfen haben Sachzwänge geschaffen.

Am schnellsten ist von den Asiaten Fahrt aufgenommen worden. Nach 1964 sind Japans 500 km langer Tokaido-Linie rasch weitere Hochgeschwindigkeitsstrecken gefolgt. Konnten die Japaner darauf ihre Technik nach Taiwan exportieren, orientierten sich die Koreaner auf der Strecke Seoul–Pusan am französischen TGV.

TGV Duplex im Bahnhof Champagne-Ardenne an der Linie Strassburg-Paris. Auf dem Nachbargleis passieren Züge mit 320 km/h. Dahinter warten Regionalzüge, und vom Bahnhof verdeckt elegante Trams nach Reims. Man beachte die gedeckte Passerelle und die überdachten Abgänge. (Bild Jakob Bosshard)

China an der Spitze

 

Das längste Schnellverkehrsnetz der Welt ist in bewundernswert kurzer Zeit mit Tausenden von Kilometern Hochgeschwindigkeitslinien von den Chinesen errichtet worden. In der Türkei wird die neue Linie von Istanbul nach Ankara und Konya in Richtung Sivas, Erzurum und Kars, mit Anschluss nach Aserbaidschan, fortgesetzt.

Auf dem afrikanischen Kontinent hat sich das frankophile Marokko für eine 200 km lange Strecke ab Tanger mit Ziel Casablanca vom TGV inspirieren lassen. In Südafrika mit ersten normalspurigen Vorortsstrecken im Raum Pretoria – Johannesburg ist eine Schnellverbindung nach Durban angedacht.

Deutschland erinnerte 1965 bei einer internationalen Verkehrsausstellung in München mit kurzen Extrazügen für 200 km/h, die nach Augsburg fuhren, an die «Fliegenden Hamburger» von 1933 für 160 km/h, die ab Berlin verkehrten. Der Effort schlief rasch ein, weckte aber die Franzosen, die an den Weltrekord zweier ihrer Lokomotiven mit 331 km/h aus dem Jahr 1955 in den Landes südlich von Bordeaux anknüpften. Bis Mitte 1967 entstanden durch Umbauten von Schnellzugskompositionen für 200 km/h die Züge Capitole du matin und Capitole du soir, die in genau sechs Stunden von Paris nach Toulouse (713 km) eilten.

Die erste, 261 km lange Direttissima Europas bauten von 1970 bis 1991 die Italiener, leider mit einem alten Stromsystem für 250 km/h, was sich im dichten Taktverkehr als zu langsam erweist. Auf allen seither errichteten Linien zwischen Turin, Venedig und Salerno schiessen komfortable Freccia-rossa-Züge (rote Pfeile) von Trenitalia mit 300 km/h selbst durch lange Tunnel.

In einer Wirtschaftskrise gebaut, steigerten die Trains à grande vitesse (TGV) Frankreichs ab 1981 ihre Höchstgeschwindigkeit in rascher Folge von 260 auf 320 km/h. Nach Paris und Lyon wurden dank der Eignung des TGV, auch «kleine» elektrifizierte Linien zu befahren, Regionen in allen Richtungen des Hexagons erschlossen. Wo der beliebte TGV noch fehlt, sind Politiker jeder Couleur gern bereit, sich für Anschubfinanzierungen einzusetzen.

Mit ihrem TGV-Netz von gut 2000 km sind die Franzosen von den Spaniern überholt worden, die schon auf deutlich über 3000 km Hochgeschwindigkeitsstrecken bauen und von der iberischen Breitspur zur europäischen Normalspur übergegangen sind. Belgien und die Niederlande haben mit Linien für 300 km/h den TGV-Verkehr nach London, Amsterdam und Deutschland ermöglicht. England, das Mutterland der Eisenbahnen, wird die begonnene Hochgeschwindigkeitslinie London–Birmingham in den Norden weiterführen.

Tunnel ohne Strecken

 

Aufgrund der grossen Kurvenradien, vieler Einsprachen, langer Bauzeiten und hoher Kosten für den Mischbetrieb (Reise- und Güterzüge) verzögerte sich in Deutschland die Betriebsaufnahme der ICE-Züge für 250 (in Verspätungsfällen 280) km/h mit zwei kurzen Neubaustrecken bis 1991. Der Vorstoss des ICE via TGV Est nach Paris mit ebenfalls 320 km/h gelang mit etlichen Geburtswehen.

Obgleich von vielen Pannen geplagt, operiert die 45 km lange Schweizer Bahn-2000-Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist (zwischen Bern und Olten) seit 2004 erfolgreich mit 200 km/h. Die 55 km lange Fortsetzung ab Roggwil nach Zürich für IC-Züge auch von Biel und Basel, eine gute Alternative zum Ausbau der A 1 auf sechs Spuren, wird bis jetzt weder vom diesbezüglich führungslosen Bundesrat noch von den Grünen und Grünliberalen und auch nicht privat finanziert angestrebt.

Die SBB-Giruno-Triebzüge für 250 km/h sind für die 300-km/h-Verbindungen nach Genua, Venedig, Florenz und Rom von den Nachbarn als Hindernisse zurückgewiesen worden. Der längste Tunnel der Welt am Gotthard und der unter Wasserdruck teilweise eingestürzte Lötschberg-Basistunnel wirken ohne angemessene Zufahrten im In- und Ausland wie Kathedralen in der Wüste. Für die stark belasteten Abschnitte Liestal–Olten (von den Stimmberechtigten 1987 beschlossen), Genf–Renens im boomenden Léman-Bogen, Puidoux–Freiburg, Zofingen–Luzern und Winterthur–St. Gallen mit tiefen Durchschnittsgeschwindigkeiten drängen sich Neubaustrecken für 200 km/h auf.

Quellenhinweis zum Titelbild: Der Kartenausschnitt wurde dem im Dezember 1977 erschienenen Schlussbericht der „Gesamtverkehrskonzeption Schweiz“ entnommen. In diesem Bericht wurden unter dem Begriff „NHT – Neue Eisenbahn Haupttransversalen für hohe Leistung“ Neu- oder Ausbaustrecken vorgeschlagen.

Zwei Monate Gotthard-Basistunnel – eine Bilanz

Was hat der längste Bahntunnel der Welt erfordert, gekostet, gebracht? Fast allen, ausser vielleicht alt Bundesrat und Verkehrsminister Adolf Ogi, scheint der Moment für eine Bilanz noch zu früh. In einigen Punkten ist diese jedoch durchaus möglich.

  • Zwei Schnellzüge und vier Güterzüge pro Stunde und Richtung sind die bescheidene Leistung, die der enorm teure Gotthard-Basistunnel tagsüber vorläufig erbringt. Sie liegt weit unter der Kapazitätsgrenze der zur Panoramalinie erklärten alten Bergstrecke, die mit leider unkomfortablen S-Bahn-Zügen den Reisenden einiges mehr als nur einen Rekord-Röhrenblick bietet.
  • Der Betrieb durch den Basistunnel ist alles andere als brillant gestartet, auch wenn die Bahnverkehrsinformation dies nicht klar erkennen lässt. Manches, vor allem die Meldungen über Umleitungen via Südbahn ohne Bedienung von Zug, tönt kaum anders als vor dem 11. Dezember 2016. Dabei ist die Höflichkeit der Durchsagen an die Passagiere (ohne „bitte“) nicht besser geworden.
  • Das Fahrplanangebot, mit allzu krasser Benachteiligung der Fahrgäste ab Basel–Luzern bei den umsteigefreien Verbindungen nach Lugano–Mailand zugunsten der stärkeren Nachfrage ab Zürich, hat Kopfschütteln statt Erwartungsfreude ausgelöst. Verkehrsspitzen werden ohne kurzfristig aktivierbare Reserven mit Stehplätzen bewältigt, was in Neigezügen besonders unangenehm wirkt. Dass das Speisewagenpersonal zum Dienst erscheint, steht nicht fest. Selbst das peinliche Eingeständnis „Kein Fahrpersonal“ liest man als Verspätungsursache im Internet.
  • Nicht überraschend treten die Geburtsfehler der Gotthard-Basislinie zutage. Dass der Chef der Ferrovie dello Stato, Mauro Moretti, am Schweizer Fernsehen in durchaus verständlichem Italienisch dargelegt hatte, weshalb die FS keinen zusätzlichen Güterverkehr in den überlasteten Raum Mailand wünschen, war von der einflussreichsten Schweizer Zeitung zustimmend kommentiert worden. Die SBB und massgebliche Politiker aber hat diese Präferenz nicht interessiert.
  • Ungeachtet der Erosion der Erträge im Transitgüterverkehr seit der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels 1980 blieben die SBB auf die Maximierung der Tarifkilometer über den südlichsten Punkt Chiasso fixiert. Dass von Lugano nach Chiasso aus topographischen Gründen mit vertretbarem Aufwand keine Flachbahn realisierbar ist, fiel so wenig ins Gewicht wie der Einwand des italienischen Nachbarn. Beschlossen wurde der Bau des Ceneri-Basistunnels, nicht die Potenzierung der günstig trassierten Linie nach Luino und zu den oberitalienischen Container-Terminals.
  • Nun stören auf dem direkten Weg von Basel nach Genua die 35 km lange, politisch motivierte Einspur im Lötschberg-Basistunnel und auf den 29 km zwischen Albate-Camerlata und Monza die Überbeanspruchung der Doppelspur durch Eurocity-, S-Bahn- und schwere Güterzüge. Auf beiden Routen verharrt die Pünktlichkeit auf einem inakzeptablen Niveau.
  • Wer in Milano Centrale während Stunden und bei späteren Besuchen erneut den Betrieb beobachtet, stellt gegenüber früher beträchtliche Fortschritte beim Leistungsniveau und im Erscheinungsbild der italienischen Fern- und S-Bahn-Züge fest. Die immer zahlreicheren Hochgeschwindigkeitszüge nähern sich der Perfektion. Aus dem Rahmen fallen die 51 km nach Chiasso. Warum?
  • Um das Eisenbahnerdorf Erstfeld vor dem stark reduzierten Bahnlärm zu schützen, wurden der Eingang des Gotthard-Basistunnels und die vorgelagerten Betriebsgleise von Amsteg in die fruchtbare Talebene nach Norden verschoben, obwohl ab Amsteg die Neigung so gering ist, dass die Reuss kaum fliesst. Die dadurch um 8 km grössere Tunnellänge hat dem Basistunnel zwar einen werbewirksamen Weltrekord gebracht, erschwert aber den Betrieb. Anders als 1938 im Grossen Apennin-Tunnel zwischen Bologna und Florenz wurden für die nur halb so schnellen Güterzüge keine Überholungsgleise vorgesehen.
  • In Luzern gesteht niemand ein, bei der Neat die Jahrhundertchance „Linksufrige“ (mit einem 25 km langen Tunnel von Stans Ost nach Erstfeld Nord, für die abgasfreie Bahn ohne den Umweg über Seelisberg) verpasst zu haben. Der Tiefbahnhof wäre jetzt in Betrieb, und Züge Basel–Zürich–Luzern–Mailand könnten verbliebenen internationalen Reiseverkehr attraktiv zusammenfassen. Statt dessen ruft man in Luzern nicht mehr bloss nach der unterirdischen Einführung der Zürcher Linie, sondern nach einem Durchgangs-Tiefbahnhof, ohne zu sagen, was dieser konkret bringen und welche Linien er verbinden soll.
  • Die stärksten Lokomotiven schleppen durch den Gotthard-Basistunnel je nach Fahrrichtung in Einfachtraktion 1400 oder 1600 t, wobei die für die Kapazität wichtige Beschleunigung unklar ist. Auf der Bergstrecke mit praktisch gleicher Geschwindigkeit wie die Schnellzüge beträgt die Norm der Güterzüge 1600 t für drei Triebfahrzeuge (zwei Lokomotiven in Vielfachsteuerung vorn und eine Schiebelokomotive bis zum Scheiteltunnel). Die Einsparung an Lokomotiven und Personal steht in keinem Verhältnis zu den Kosten des Tunnelbauwerks.
  • 200 km/h im 57 km langen Gotthard-Basistunnel (160 km/h der TGV im 50 km langen Kanaltunnel) und der IC-Halbstundentakt verunmöglichen die massive Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene, den deklarierten Zweck der Neuen Eisenbahn-Alpentransversalen. Die Geschwindigkeitsdifferenz zu den langsamer beschleunigenden und 100 km/h erreichenden Güterzügen senkt die Streckenkapazität drastisch. Auch die Auswirkungen der vielbeschworenen Flachbahn auf den Stromverbrauch (aufgrund des Luftwiderstands teilweise höher als über die Bergstrecke) hatten sich die Zustimmenden bei den Neat-Entscheiden anders vorgestellt.
  • Ende der sechziger Jahre benötigte der TEE „Gottardo“, ohne aufwendige Neigetechnik, mit 3 Minuten Halt für den neuen Lokomotivführer in Como und in den meisten Fällen pünktlich, von Lugano nach Mailand 58 Minuten. Heute ist der Eurocity, wenn er denn nicht ausfällt, mit doppelt so langem Aufenthalt für den Personalwechsel an der Grenze und mit Bedienung von Como 19 bis 29 Minuten länger unterwegs, wodurch ein grosser Teil des teuer erkauften Zeitgewinns im Gotthard verloren geht.
  • Von einem Effort der Bahnen, die einst in den TEE-Zügen sehr geschätzten, kaufkräftigen Kreuzfahrten-Passagiere mit dem Argument Gotthard-Basistunnel zu einem wesentlichen Teil in die Züge zurückzuholen, ist nichts zu erkennen. Wie seit Jahren preisen die Reiseveranstalter ihre Bus-Zubringer nach Genua, Savona, Venedig an. Massgeblich ist die Verlässlichkeit bzw. deren Ungenügen. Reisende mit Gepäck aus verspäteten Zügen irgendwo umsteigen zu lassen oder sie in Arth-Goldau bei rudimentärer Information in einen S-Bahn-Zug mit wenig Plätzen 1. Klasse bis zu einem erneuten Wechsel in Zug zu verfrachten und mit einem Sorry-Gutschein für 5 oder 10 Fr. abzuspeisen, geht einfach nicht.
  • Zur Freude der in der Schweiz übermächtigen Bau- und Tunnel-Lobby werden die ungenügenden Resultate der ersten Gotthardbasis-Wochen teilweise auf die Zufahrten zurückgeführt. Kaum Wünsche lässt die nicht ausgelastete Südbahn für den Güterverkehr offen. Zur Strecke Zürich–Zug hat die Schweizerische Depeschenagentur die Mär verbreitet, dass der Bau des Zimmerberg-Basistunnels II aus finanziellen Gründen abgebrochen worden sei. Das Parlament hat den Regierungsantrag, die Bohrmaschine aus Zürich weiterarbeiten zu lassen, deutlich abgelehnt, weil dieser Durchstich nur zwei Gotthard-Zügen pro Stunde ohne Halt bis Zug dienen würde, während die Interregio- und S-Bahn-Züge in Thalwil Anschlüsse herstellen müssen und Güterverkehr fehlt. Als vorsorgliche Massnahme wurde die unter Betrieb kaum realisierbare Abzweigung im Berg erstellt. Ein zweites Gleis über Sihlbrugg erfordert knapp halb so viele Tunnelkilometer und ist nur unwesentlich langsamer als der Basistunnel.
  • Eine Doppelspur am östlichen Zugersee-Ufer erübrigt sich, da die Schnellzüge, bei einer Fahrzeit von 14 Minuten, in Zug und Arth-Goldau kreuzen, auch die stündliche S-Bahn in Walchwil passt und Güterzüge nicht geplant sind. Wenn Züge unpünktlich verkehren, ist die Ursache zu beseitigen. Sämtliche Strecken so auszubauen, dass Züge aus Deutschland oder Italien zu beliebigen Zeiten eintreffen können, ohne zu stören, ist wirtschaftlich untragbar. Nach dem Schwerpunkt am Gotthard müssen Investitionen der West–Ost-Richtung folgen.
  • Ausser den Ankunftsverspätungen in Chiasso und Baustellen auf dem SBB-Netz unter anderem für den zu spät begonnenen 4-m-Korridor bildet das Rollmaterial den Schwachpunkt am Gotthard. Wie vorausgesagt, hat die Öffnung des neuen Zürcher Durchgangsbahnhofs auch für den Fernverkehr zu einem Engpass bei den Intercity-Neigezügen (ICN) geführt. Verstärkungen und Schwächungen der Kompositionen sind in Durchgangsbahnhöfen nicht möglich. Zweite Einheiten in der Stosszeit nach St. Gallen werden nun aus der Westschweiz gebracht.
  • Am Gotthard sind Eurocity-Neigezüge der einzig greifbare ICN-Ersatz. Die Verfügbarkeit dieser ETR 610 im Bestand von Trenitalia und der SBB auf den Strecken von Genf, Basel–Bern und Zürich nach Mailand erinnert fast verzweifelt an die inzwischen verschrotteten Cisalpini. Die SBB-Werkstätten kommen damit offensichtlich nicht zurecht. In Grossbritannien bewältigen 57 Neigezüge aus der gleichen italienischen „Familie“ den gesamten Intercity-Verkehr von London nach Birmingham, Manchester, Liverpool und Glasgow tadellos, seit der Unternehmer Richard Branson (Virgin) den Unterhalt dem Hersteller Alstom aufgetragen hat. Die erfolgreiche Idee könnte übernommen werden.