Dieser Beitrag wurde am 21. April 2022 revidiert und mit einem Link zum zitierten Artikel in der Ausgabe der „NZZ am Sonntag“ ergänzt. Besten Dank an Herrn Jürg Meier.
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In der Ausgabe der „NZZ am Sonntag“ vom 19. März 2022 fasst Jürg Meier unter dem Titel „SBB: Güter sollen auf die Strasse“ Aussagen von Benedikt Weibel zur Lage des Schienenverkehrs in der Schweiz zusammen. Schon die Einleitung „Die Pandemie beschert dem öffentlichen Verkehr Milliardenverluste. Jetzt brauche es Einschnitte im Güterverkehr und bei Ausbauten, sagt der frühere SBB-Chef Benedikt Weibel.“ lässt aufhorchen.
In diesem Beitrag möchten wir die Aussagen von Benedikt Weibel kritisch hinterfragen und Stellung nehmen. Zudem erachten wir die vermutlich durch die NZZ gesetzte Überschrift „SBB: Güter sollen auf die Strasse“ als ausgesprochen tendenziös – vor allem für die eiligen Leserinnen und Leser, welche den Inhalt des Artikels nur überfliegen.
Zum Schienengüterverkehr in der Schweiz
In der Tat kann man den Nutzen des nationalen Einzelwagenladungsverkehrs kritisch hinterfragen. Es gibt berechtigte Zweifel an der ökonomischen und ökologischen Sinnhaftigkeit. Mit nur noch zwei grossen und nicht voll ausgelasteten Rangierbahnhöfen ergeben sich für viele Wagen ungünstige Relationen zwischen a) der Entfernung von Sender und Empfänger und b) der von den Güterwagen zurückgelegten Strecke sowie lange Beförderungszeiten.
Auf der anderen Seite zeugt „RailCare“, das private Eisenbahnverkehrsunternehmen der Coop-Gruppe, dass grosse Firmen weiterhin auf den nationalen Schienengüterverkehr mit Einzelwagen setzen und auch entsprechend investieren.
Und noch bemerkenswerter ist die positive Aufnahme, welche das Konzept „Cargo Souterrain“ bei grossen Nachfragern von Transportleistungen gefunden hat. Für uns ist „Cargo Souterrain“ ein deutliches Indiz dafür, dass man die Leistungsfähigkeit des Strassengüterverkehrs in Frage stellt und nach Alternativen sucht.
Erstaunlich, dass die Schweizer Bahnen bis dato keine Alternativen zu „Cargo Souterrain“ gefunden oder kommuniziert haben. Vor einigen Jahren hat ein Vertreter von SBB Cargo von einem Konzept mit acht nationalen Containerterminals gesprochen. Das könnte in Verbindung mit weiteren Innovationen vorab ins Rollmaterial durchaus eine Antwort auf „Cargo Souterrain“ sein. Vor allem wenn für die erste Etappe von „Cargo Souterrain“ von Investitionen von über CHF 33 Milliarden gesprochen wird. Damit könnte man auch auf der Schiene viel erreichen.
Es wäre verdienstvoller, wenn Benedikt Weibel statt Abbaumassnahmen zu fordern, tragfähige Lösungen für die Entwicklung des nationalen Schienengüterverkehrs erarbeiten und vorschlagen würde.
Umdenken bei der Infrastruktur
Noch weniger einverstanden sind wir aus verschiedenen Gründen mit der plakativen Forderung, Ausbauvorhaben kritisch zu hinterfragen.
Da ist einmal die von Benedikt Weibel postulierte und auch in der öffentlichen Diskussion zunehmende Betonung der Kosten als Entscheidungsgrundlage. Grundsätzlich stiftet eine Investition in die Verkehrsinfrastruktur aus Kundensicht Nutzen, wie Zeitgewinn, Verkehrsangebot und Zuverlässigkeit. Diesen Überlegungen wird unseres Erachtens unzureichend Beachtung geschenkt.
Dazu kommt, dass es sich bei den teuren Vorhaben des Ausbauschrittes 2030/35 vorab um die überfällige Beseitigung von seit vielen Jahren bestehenden Schwachstellen handelt. Der Katalog der Schwachstellen im Schweizer Normalspurnetz enthält darüber hinaus zahlreiche weitere Massnahmen. Zu erwähnen sind etwa die unzureichenden, wenig leistungsfähigen und nicht umweltkonformen Zufahrten zu den Tunnels der NEAT wie beispielsweise die Relation Lugano-Chiasso oder der überfällige dritte Juradurchstich. Zum Vergleich: Italien baut unter der Bezeichnung „Terzo Valico“ eine dritte und leistungsfähige Eisenbahnlinie von Genua in die Poebene.
Uns fällt auf, dass vor allem in Österreich, aber auch teilweise in Italien, an Ausbauvorhaben gearbeitet wird oder die teilweise bereits umgesetzt sind, von denen wir in der Schweiz kaum zu träumen wagen. Zum Vergleich: Eine Reisezeit von rund 2 ½ Stunden für die Fahrt von Zürich nach Genf ist nicht mehr zeitgemäss.
Angebotsausbau
Beipflichten möchten wir der Forderung von Benedikt Weibel nach Zurückhaltung bei der Angebotsausweitung auf stark genutzten Strecken des Fernverkehrs. Wenn überhaupt, könnten Zusatzzüge in den Hauptverkehrszeiten die Nachfragespitzen brechen. Das dafür notwendige Rollmaterial könnte beispielsweise an Werktagen zwischen den grossen Zentren und am Wochenende im Freizeitverkehr eingesetzt werden.
Effizienzsteigernd könnte sich auch die Ausdünnung des Taktangebots in den Randstunden oder in heute überdotierten Korridoren wie etwa im Oberwallis oder zwischen Sargans und Chur auswirken. In die gleiche Richtung zielt die Umstellung des Reiseverkehrs in den Randstunden auf die Strasse, wie es einzelne Privatbahnen wie etwa die RhB schon heute erfolgreich praktizieren.
Kommentar
Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie ist für das Gedeihen der Demokratie unverzichtbar. Ob es jedoch angebracht ist, wenn sich ein ehemaliger und von vielen Mitarbeitenden seines früheren Arbeitgebers hoch geschätzter Unternehmensleiter für Restrukturierungen ausspricht, bleibe dahin gestellt. Vor allem, wenn sich alt Bundesrat Adolf Ogi gemäss einem Zitat aus dem Buch „Der rote Boss“ von Christian Dorer und Patrik Müller wie folgt geäussert hatte: „Im Güterverkehr hat Beppo nicht das erreicht, was ich mir erhofft habe.“
Nachtrag
Link zum zitierten Artikel in der Ausgabe der „NZZ am Sonntag“ vom 19. April 2022.
Zurzeit wird In Österreich an der Koralmbahn, einem weiteren grossen Eisenbahnprojekt, gearbeitet, Die Koralmbahn wird nach ihrer mutmasslichen Fertigstellung im Jahr 2025 die Reisezeit zwischen Graz, Hauptstadt des Bundeslandes Steiermark, und Klagenfurt, Hauptstadt des Bundeslandes Kärnten, auf einen Bruchteil der heutigen Zeit reduzieren.
Der Bau der Koralmbahn ist eingebettet in das Projekt „Ausbau Südstrecke“ und damit Bestandteil des „Baltisch-Adriatischen Korridors“ der EU.
Zudem wird die Koralmbahn die Erreichbarkeit von heute eher peripheren Regionen in Österreich substantiell verbessern.
Nachdem wir den Fortschritt dieses grossartigen Eisenbahnprojekts seit einigen Jahren intensiv verfolgen und mehrere Studienreisen in die Region unternommen hatten, besichtigten wir anfangs April 2022 das Projekts auf den eigens dafür geschaffenen „Rad-Infopfaden“ auf seiner ganzen Länge. Die Eindrücke von diesem in vieler Hinsicht beispielhaften Projekt waren überwältigend. Mehr darüber in diesem Bericht.
Verkehrsverbindungen zwischen Graz und Klagenfurt
Die Bahnfahrt zwischen Graz und Klagenfurt dauert heute rund drei Stunden. Zudem muss dabei in der Regel in Bruck an der Mur umgestiegen werden. Der elektronische Fahrplan der SBB zeigt für einen Werktag zehn Verbindungen.
Mit den direkt verkehrenden Intercity-Bussen der ÖBB dauert die Fahrt über den Packsattel 2 Stunden und 13 Minuten. Täglich verkehren sieben Buspaare.
Mit der Koralmbahn verkürzt sich die Reisezeit zwischen Klagenfurt und Graz auf nur noch 45 Minuten und somit auf etwa einen Viertel der Dauer der heutigen Bahnreise.
Auch die Erreichbarkeit des Lavanttals wird durch die Koralmbahn substantiell verbessert. Die Reisezeit von der Landeshauptstadt Klagenfurt zu Städten wie Wolfsberg in Kärnten oder St. Paul sinkt im Vergleich zu heute auf weniger als die Hälfte.
Koralmbahn im Überblick
Die Länge der Neubaustrecke beträgt ohne die bestehende Schleife über Bleiburg 125,4 Kilometer. Davon liegen 50,3 Kilometer in Tunnels oder Überdeckungen. Der Tunnelanteil beträgt 40,2 Prozent.
Die Koralmbahn folgt im Westen teilweise der heute im Dieselbetrieb befahrenen Bestandesstrecke von Klagenfurt über Bleiburg nach Wolfsberg. Bleiburg bleibt auch inskünftig über eine elektrifizierte Schleife an die Koralmbahn angebunden. Von Klagenfurt aus fahren die Regionalzüge nach Wolfsberg bereits heute auf rund dreissig Kilometern auf der Koralmbahn.
Im Raum Graz werden die grossen Güterterminals an die Koralmbahn angebunden. In Planung für einen weiteren Ausbauschritt ist ein zusätzlicher Bahnhof am Flughafen Graz. Der Flughafen ist vom Zentrum von Graz aus bereits heute mit der S-Bahn in wenigen Minuten erreichbar.
Zwischen Weitendorf und Wettmanstetten dient die Koralmbahn auf einer Länge von knapp zwanzig Kilometern auch dem Regionalverkehr. Bereits heute benutzen die mit Diesel betriebenen Züge der Graz-Köflach-Bahn GKB die Geleise der Koralmbahn auf den erwähnten Abschnitt. Die Elektrifikation der GKB steht gemäss den uns vorliegenden Informationen jedoch bevor.
Die Strecke wird für Höchstgeschwindigkeiten bis zu 250 km/h ausgelegt. Teile der Strecke dienen wie erwähnt sowohl auf dem Ost- und als auch auf dem Westast auch dem Regionalverkehr.
Die baulichen Arbeiten sind weit fortgeschritten. Zurzeit sind noch grössere bauliche Aktivitäten zwischen Graz Don Bosco und Weitendorf sowie von Aich nach Eis/Ruden im Gang. Des Weiteren wird intensiv an der Fertigstellung von einigen Bahnhöfen gearbeitet.
Entlang der Koralmbahn werden 23 Bahnhöfe neu gebaut oder erneuert. Zudem wird die Lavanttalbahn elektrifiziert.
Die gesamten Investitionen für die Koralmbahn könnten gemäss unbestätigten Meldungen aus der Presse EUR 10 Milliarden erreichen, nachdem man 2009 noch von einem Investitionsbedarf von EUR 5,2 Milliarden ausgegangen war. Die Mehrkosten sind auf die Baukostenteuerung und substantielle Mehrleistungen zurückzuführen.
Reportage von der Erkundungstour von Klagenfurt nach Graz
Meine Eindrücke waren wie eingangs erwähnt überwältigend. Lärm- und Umweltschutz, Sicherheitsmassnahmen sowie Gestaltung und Funktionalität der Bahnhöfe sind einzigartig.
Beispielhaft sind auch die Kommunikationsmassnahmen und die Projektdokumentationen wie Karten und Prospekte für die Öffentlichkeit sowie die sechs Informationspavillons.
Bilder sagen bekanntlich mehr als Worte. Die folgenden Bilder und die Kommentare vermitteln Eindrücke von der Erkundungstour von Klagenfurt nach Graz.
Kommentar
Von der Koralmbahn werden gemäss der Aussage des Vizepräsidenten des Stadtrates von Deutschlandsberg starke positive Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung von Südostösterreich erwartet. Beispielsweise reduziert sich Reisezeit zwischen dem Bahnhof Lavanttal und Graz auf knapp eine halbe Stunde und ermöglicht somit das Pendeln in das prosperierende Graz.
Aber die Koralmbahn führt auch zur Aufhebung von heute von der Bevölkerung geschätzten Bahnhöfen, wie beispielsweise des schmucken Bahnhofs von Stein im Jauntal. Andererseits ist die Region bereits heute gut mit Bussen erschlossen.
Die Koralmbahn wird nach ihrer Fertigstellung auch Mischverkehr aufnehmen müssen. Das reduziert die Kapazität. Besondere Anforderungen beim Betrieb ergeben sich durch die nicht kreuzungsfreie Einbindung von zwei Einspurstrecken. Während die Züge über Bleiburg in einer Richtung „nur“ ein Gleis der Koralmbahn kreuzen, ist im Osten komplizierter. Die Züge der GKB von Werndorf nach Wettmannstetten müssen beide Geleise der Koralmbahn kreuzen. Das führt zu einem erheblichen Kapazitätsverlust. Wenn die Koralmbahn wirklich eine bedeutende Rolle als Güterverkehrskorridor übernehmen soll, können diese strukturellen Gegebenheiten zu Problemen führen.
Diese kritischen Bemerkungen sollen dem grossartigen Werk der Koralmbahn keinesfalls Abbruch leisten. In einem gewissen Gegensatz zu den Ankündigungen, wonach die Koralmbahn von europäischer Dimension sei, sehen wir ihren Nutzen doch eher als eine neue und hochwertige innerösterreichische Bahninfrastruktur.
Uns ist schon bei der ABS 38 zwischen München und Freilassing aufgefallen, dass nationale Verkehrsprojekte stets und mit einer gewissen Euphorie in einen europaweiten Kontext gestellt werden, so etwa auch das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm als Bestandteil des Korridors Paris-Bratislava. Niemand sollte jedoch den ersten Stein werfen – auch bei der NEAT oder bei anderen Ausbauprojekten in der Schweiz wurde schon analog argumentiert.