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Nach einem unglaublichen Kraftakt wurde der Betrieb auf der Strecke zwischen Stabio bzw. Porto Ceresio und Varese am 7. Januar 2018 aufgenommen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten stabilisierte sich der Betrieb gegen Ende der ersten Woche. Was noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar schien, wurde Realität. Der Berichtende hat die Gegebenheiten vor Ort am 10. Januar 2018 besichtigt.
Die Eindrücke sind zwiespältig – Freude und Begeisterung über das grossartige Werk werden durch das aus Schweizer Sicht völlig unzureichende Betriebskonzept stark getrübt. Das grosse Potential der neuen Verbindung für die Schweiz wird auch nach der Weiterführung der heute in Varese endenden Regionalzüge zum Flughafen von Malpensa unzureichend genutzt – in Anbetracht der Bruttoinvestitionen von fast einer halben Milliarde Schweizer Franken in das neue Verkehrssystem eigentlich unverständlich.
Infrastruktur
Auf meiner Erkundungsreise habe ich die Bahnhöfe von Porto Ceresio, Arcisate, Induno Olona und Varese TI besichtigt. Dazu ein paar Bilder und ein kurzer Kommentar.
Porto Ceresio
Wo noch vor einem halben Jahr keine Geleise lagen, befinden sich grosszügige Perrons, belegt mit Natursteinplatten. Die Überdachung beeindruckt durch eine schlichte und ästhetisch gelungene Gestaltung. Die Renovation des bereits bestehenden Bahnhofgebäudes ist weitgehend abgeschlossen. Ein Nebengebäude mit einer modernen WC-Anlage mit mehreren Kabinen steht bereit. Die Benutzung ist kostenlos.
Von Porto Ceresio aus verkehrt alle Stunden ein Regional Express nach Milano Porta Garibaldi. Die Fahrt mit modernen, komfortablen und ruhig laufenden Niederflurzügen dauert 72 Minuten. Die Züge werden von einem Zugbegleiter begleitet, der unter anderem dem Lokomotivführer den Abfahrtsbefehl erteilt.
Anzeigebildschirm im Regioexpress von Porto Ceresio nach Milano Porta GaribaldiZwischenhalte des Regioexpress zwischen Varese und Milano Port Garibaldi
Porto Ceresio ist übrigens mit einem an Werktagen stündlich verkehren Postauto nach Riva San Vitale an das Schweizer Verkehrsnetz angebunden. Am Sonntag verkehren die Postautos weniger häufig.
Zwischenperron des Bahnhofs von Porto Ceresio
Bahnhof von Porto Ceresio mit abfahrbereitem Regioexpress nach Milano Porta Garibaldi
WC-Häuschen in Porto Ceresio
Bisuschio-Viggiù
An der Strecke zwischen Porto Ceresio und der Einmündung in die Linie von Gaggiolo nach Varese wird noch gearbeitet. Die Kabel für die Kommunikation liegen noch auf dem nackten Boden – aber vor sieben Monaten lagen überhaupt noch keine Geleise. Das folgende Bild entstand auf dem kurzen Halt in Bisuschio-Viggiù. Man beachte die verwendeten Materialien auf dem Perron.
Perron des Bahnhofs von Bisuscio-Viggiù
Arcisate
Wie in den Schwesterbahnhöfen von Gaggiolo und Induno Olona sind die Geleise auch in Arcisate tief gelegt. Das Bahnhofgebäude ist als Verbindungsbrücke konstruiert. Es enthält eine Bar, eine Wartezone und WC-Anlagen. Vor dem Bahnhofgebäude befinden sich zahlreiche Parkplätze. Die Perrons werden je durch einen Lift und eine Treppe erschlossen. Primär für Rettungszwecke wurde eine Rampe mit einem untenliegenden Wendeplatz errichtet. Die Perrondächer sind mit leistungsfähigen Schallschutzelementen ausgestattet. Man beachte den Zugbegleiter, der soeben nach dem Kontrollblick auf den Zug den Abfahrtsbefehl erteilt.
Verschiedene Baumängel harren der Behebung. Die handwerkliche Qualität der Bauteile aus Beton vermag gelegentlich nicht zu begeistern.
Bahnhofgebäude von Arcisate
Warteraum im Bahnhof von Arcisate
Cafeteria im Bahnhof von Arcisate, in der neben Cafe auch Billette verkauft werden
Perron von Arcisate mit Blick auf den Wendeplatz und – dahinter und nicht sichtbar – mit der Rampe für Rettungsfahrzeuge
Einfahrt des Regioexpress aus Milano Porta Garibaldi nach Porto Ceresio in den Bahnhof von Arcisate
Abfahrbereiter Regioexpress im Bahnhof von Arcisate – der Zugchef konsultiert die Uhr
Induno Olona
Induno Olona ist praktisch gleich konzipiert wie Arcisate. Aufgefallen ist mir die bemerkenswerte Sitzbank, wie sie auch auf anderen Bahnhöfen zu finden ist.
Übrigens für Schokoladeliebhaber – in Induno Olona befindet sich eine ausgedehnte Betriebsstätte von Lindt & Sprüngli.
Blick aus dem Bahnhof von Induno Olona Richtung Varese
Sitzbank im Bahnhof von Induno Olona – man sitzt dank der elastischen Sitzauflage relativ bequem
Varese TI
Varese verfügt über zwei etwa 250 Metern voneinander entfernte Bahnhöfe. Beide werden heute von TreNord bedient. Das war aber nicht immer so. Der untere Bahnhof wurde von der Ferrovia Nord Milano bedient und verband Varese über Saronno mit Milano Cadorna. Der andere obere Bahnhof – Varese TrenItalia TI – wurde von der Ferrovia dello Stato betrieben und verband Varese über Gallarate mit Milano Centrale und Milano Porta Garibaldi.
Von beiden Bahnhöfen aus verkehren je zwei S-Bahnzüge nach Milano oder durch die Passante weiter nach Treviglio. Dazu kommen stündlich schnelle Regioexpresszüge. Vor Jahren führte TreNord von Varese aus Schnellzüge nach Mailand mit einer Reisezeit von nur 35 Minuten nach Milano Garibaldi.
Auszug aus dem seinerzeitigen Prospekte von Trenord
Nachstehend ein paar Bilder vom Bahnhof Varese TI (ex FS). Die S-Bahnzüge über Milano nach Treviglio halten am überdachten Hausperron. Die Züge von Mendrisio und von Porto Ceresio aus halten an einem nicht überdachten Zwischenperron. Bemerkenswert ist die Gestaltung der Unterführung. Da ereignen sich kaum Sachbeschädigungen oder Gewaltakte.
Blick auf die Geleise des Bahnhofs von Varese TI
Bahnhof Varese TI – S-Bahn nach Mendrisio trifft sich mit dem Regioexpress nach Milano Porta Garibaldi
Unterführung im Bahnhof von Varese TI
Kommentar
Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass es sich bei der Strecke von Varese nach Arcisate eigentlich um eine Ausbaustrecke handelt. Früher bestand eine oberirdische Einspurstrecke. Im Zuge des Ausbaus wurde die Strecke tief gelegt und zudem in den dicht bebauten Gebieten überdacht.
Höchst beindruckend ist auch das Tempo, mit der die Strecke nach jahrelangen Verzögerung schlussendlich fertig gestellt wurde. Wo noch im Frühjahr 2017 Aushubarbeiten im Gang waren, verkehren heute Züge.
Betriebskonzept
Die Freude über das grossartige Bauwerk ist durch das aus Schweizer Sicht unbefriedigende Betriebskonzept einer grossen Ernüchterung gewichen, und zwar aus folgenden Gründen:
- Zurzeit enden alle Züge aus Mendrisio in Varese. Auch nach 10. Juni 2018 besteht keine direkte Verbindung zwischen Lugano und dem Flughafen von Malpensa.
- Das grosse Potential der FMV als Zubringerservice nach Malpensa bleibt in sträflicher Weise unerschlossen. Von Lugano aus dauert die Fahrt nach Malpensa und mit Umsteigen in Mendrisio 104 Minuten. Das ist kein marktfähiges Angebot. Ein trainierter Radfahrer ist praktisch gleich schnell. Ein direkter Regioexpress mit wenigen Halten könnte die Strecke in 65 Minuten bedienen. Zur Erinnerung – vom Stadtzentrum von Milano aus fahren stündlich vier in der Regel sehr gut besetzte Malpensa Expresszüge zum Flughafen Malpensa.
- Mit schnellen Zügen von Lugano nach Gallarate und dem dortigen Halt der EC zwischen Milano und der Schweiz könnte die Fahrt ins Wallis und ins Berner Oberland substantiell beschleunigt werden.
- Auch nach Lausanne und Genf könnte die Reisezeit selbst nach der Inbetriebnahme des Ceneri Basis-Tunnels um knapp eine halbe Stunde verkürzt werden.
Berechnungen und Darstellung vom Autor
- Zu prüfen wäre auch die Führung jedes zweiten EC aus Zürich oder Basel nach Malpensa statt nach Milano Centrale. Man kann in Lugano, Varese oder Gallarate mühelos auf schnelle S-Bahnzüge nach Mailand umsteigen.
- Verfehlt erscheint auch das Konzept der S40 zwischen Albate Camerlata über Chiasso und Mendrisio nach Varese (und später) nach Malpensa. Die Fahrzeit zwischen Como San Giovanni nach Malpensa über Mendrisio nach Malpensa dauert 101 Minuten. Die Fahrt aus dem im Stadtzentrum gelegenen Bahnhof Como Nord Lago nach Malpensa mit Umsteigen in Saronno ist günstiger und mit 88 Minuten auch weniger lang.
- Zudem sollte in Anbetracht der guten Anbindung von Porto Ceresio an das schweizerische Verkehrsnetz auch die Verbindung von Porto Ceresio bis nach Gallarate und weiter nach Milano Porta Garibaldi ins Schweizer Kursbuch aufgenommen werden.
Auszug aus dem Kursbuch 2017/2018
Persönliche Bemerkungen
Für mich stellt sich einmal mehr die Frage nach der Kompetenz und dem Problembewusstsein der zuständigen Stellen bei der SBB. Getragen von einem sorgsam gehegten und gepflegten öffentlichen Image häufen sich die Fehlleistungen. Offensichtlich haben nostalgische und marktfremde Angebote wie die EC Frankfurt – Basel – Mailand Vorrang vor wirklichen Verbesserungen im grenzüberschreitenden Personenverkehr. Andere Angebote wie das Führen von einzelnen Fernzügen nach Venedig fallen meines Erachtens in die gleiche Kategorie. Das Konkurrieren einer angeblichen befreundeten Staatsbahn auf deren Netz ist in anzunehmender Weise kontraproduktiv.
Ähnlich problematisch erscheint das Führen von Schweizer S-Bahnzügen in die Lombardei. Was empfindet wohl der italienische Lokführer, wenn der Kollege aus der Schweiz für das Führen von Zügen auf Strecken in Italien mehr als doppelt so viel verdient wie er?
Wen erstaunt vor diesem Hintergrund die immer wieder kolportierte geringe Kooperationsbereitschaft von Italien im grenzüberschreitenden Bahnverkehr?
Auf allen Ebenen besteht Handlungsbedarf. Wer aber setzt sich für Verbesserungen ein? Ein ideales Feld, auf dem sich beispielsweise die BLS AG mit dem Führen von direkten Zügen von Bern und Sion nach Lugano profilieren könnte. Nicht weniger sinnvoll wäre ein Angebot des Kantons Tessin an TreNord, ein halbes Dutzend der ausgereiften Triebwagenzüge von Alstom mehrstromfähig zu machen und damit einen stündlichen Malpensaexpress zwischen Lugano und Malpensa zu betreiben.
Aussenansicht des Malpensa Express, aufgenommen im Bahnhof Milano Bovisa in der Nähe einer Universität von Milano
Innenraum des Regioexpress
Steckdosen im Regioexpress bei Sitzplätzen in der 2. Klasse