SwissRailvolution – GV 2023 / Referat Guido Schoch

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In diesem Beitrag berichte ich über die Generalversammlung 2023 von SwissRailvolution und das daran anschliessende Referat von Guido Schoch «Bahnstrategie statt Giesskanne – Schluss mit dem Bahnausbau im Blindflug».

Mit Spannung warten die Anwesenden nach der Pause auf das Referat von Guido Schoch. Die hohen Erwartungen, das sei vorweggenommen, werden nicht enttäuscht.

Doch zuvor zur Generalversammlung: SwissRailvolution ist ein Verbund von Organisationen, der sich kraftvoll für einen gezielten Ausbau des Fernverkehrs im schweizerischen Eisenbahnnetz einsetzt. Damit soll das Bahnnetz modernisiert und Voraussetzungen für die Erhöhung des Anteils der Eisenbahn am Modalsplit geschaffen werden.

Generalversammlung

François Pointet, Mitglied der Grünliberalen Partei und 2019 von den Stimmenden des Kantons Waadt als Nationalrat gewählt, eröffnet die Generalversammlung im Kommissions-Zimmer 3 des Bundeshauses in Bern mit einer kurzen Grussadresse. Er vertritt Filippo Lombardi, ehemaliger Präsident des Ständerates und heutiger Stadtrat von Lugano, der sich kurzfristig entschuldigen musste. François Pointet postuliert eine bessere Anbindung der Schweiz an das europäische Eisenbahnnetz und einen Ausbau des grenzüberschreitenden S-Bahnverkehrs.

Nach den Ausführungen von François Pointet führt Guido Schoch, Vizepräsident von SwissRailvolution mit sicherer Hand durch die Generalversammlung.

Im Verlauf der Generalversammlung erteilt Guido Schoch das Wort Tobias Imobersteg, Generalsekretär von SwissRailvolution, und bedankt sich einleitend bei ihm für sein grosses Engagement. In seinem Bericht als Generalsekretär erläutert Tobias Imobersteg drei grosse Herausforderungen für die Schweizer Bahnen, nämlich a) eine zeitgemässe Trassenführung, b) eine Erhöhung des Modalsplits als Antwort auf die Klimakrise und c) Sicherstellung des Gleichgewichts zwischen den Landesteilen und innerhalb der Regionen.

Tobias Imobersteg freut sich über die stärker werdende Präsenz von SwissRailvolution in der Presse und in den Sozialen Medien.

In einem kurzen Tour d’Horizon kritisiert Tobias Imobersteg einige Aspekte der schweizerischen Verkehrspolitik, weist aber auch auf erfreuliche Entwicklungen im Parlament hin. So wurde die Motion «Verkehrskreuz Schweiz» von den Räten am 12. Dezember 2022 mit grossen Mehrheiten überwiesen. Kritisiert werden hingegen die mangelnde Koordination zwischen Ausbau von Güter- und Personenverkehr, die unzureichende Abstimmung der Raumplanung mit der Verkehrsplanung sowie die angekündigte Tariferhöhung der Preise des öffentlichen Verkehrs auf Ende 2023. Die Tariferhöhung ist das Ergebnis einer Fehlplanung des Bundes, die den Bau von den für den Fernverkehr rentable Neubaustrecken vernachlässigt hat. Tobias Imobersteg hat ausgerechnet, dass eine 20 Meter breite Neubaustrecke auf 400 Kilometer Länge nur 800 Hektaren Land benötigen würde, wobei der ausgebildete Geograf ergänzt, dass durch die Zersiedlung jedes Jahr mindestens 1’500 Hektaren Land verloren gehen. Dank ihrer verdichtenden Wirkung könnte eine schnellere Bahn auch dazu beitragen, diese Zersiedlung einzudämmen. Auf Kritik stösst auch der Fahrplanentwurf 2025 vorab für die Westschweiz, der wohl ebenfalls auf fehlende Neubaustrecken zurückzuführen ist.

Mit Besorgnis weist Tobias Imobersteg anhand dieser Graphik auf die Tatsache hin, dass der Anteil des nationalen Personenverkehrs auf der Schiene seit 2010 kaum mehr zunimmt. Das ist nicht zuletzt aus ökologischen Gründen fatal. Tobias Imobersteg weist ergänzend darauf hin, dass die Bevölkerung in der Schweiz zwischen 2000 und 2010 um 600’000 Personen gewachsen ist – von 2011 bis 2019 hat sich das Wachstum mit 800’000 Personen fortgesetzt.

Die Tabelle wurde mit dem besten Dank der Präsentation von Tobias Imobersteg entnommen.

Im Anschluss an die interessanten Ausführungen von Tobias Imobersteg nehmen die Anwesenden von der Jahresrechnung 2022 Kenntnis und genehmigen sie aufgrund des einwandfreien Testats der Rechnungsrevisoren. Auch das Budget für 2024 findet Zustimmung.

Unter Varia äussern sich die Anwesenden in einer kurzen und intensiven Diskussionsrunde zu verschiedenen Aspekten der schweizerischen Verkehrspolitik und zu aktuellen Entwicklungen. Einige Votanten äussern sich besorgt über die Zukunft des schweizerischen Eisenbahnnetzes, das an mehreren Orten an die Grenze der Leistungsfähigkeit stösst.

Nach etwa 40 Minuten schliesst Guido Schoch die Generalversammlung und leitet zur Pause über.

Referat von Guido Schoch

Guido Schoch bei seinem packenden Referat. (Das Bild wurde von Tobias Imobersteg zur Verfügung gestellt. Besten Dank).

Einleitend erläutert Guido Schoch die CO2-Emissionen der verschiedenen Verkehrsmittel. Insgesamt verursacht der Verkehr 32 Prozent aller Treibhausgasemissionen in der Schweiz. 73 Prozent davon werden vom motorisierten Individualverkehr MIV und nur 0,2 Prozent von der Eisenbahn verursacht. Eine Reduktion der Treibhausgasemissionen des Verkehrs setzt eine Verlagerung vom MIV zum öffentlichen Verkehr voraus. Oder, wie Peter Füglistaler am 13. September 2022 bei SwissRailvolution ausgeführt hat «Die Bahn leistet dank effizienter Nutzung ihrer Stärken einen grossen Beitrag zum Klimaziel 2050 und stärkt den Lebens- und Wirtschaftsstandort Schweiz.».

Ziele und Perspektiven Bahn 2050. Diese Tabelle wurde mit dem besten Dank den Präsentationsunterlagen von SwissRailvolution entnommen.

Leider, so Guido Schoch, erfüllt das Konzept «Bahn 2050» diese Erwartungen nicht. Trotz enormen Investitionen von über CHF 20 Milliarden wächst der Anteil des öffentlichen Verkehrs bis 2050 nur um 3 Prozentpunkte. Das ist fatal. Was läuft da falsch? Guido Schoch bemängelt, dass die Planung nicht aus Sicht der Kunden, sondern aus derjenigen der Infrastruktur erfolgt. Statt wie bei Bahn 2000 aus den Kundenbedürfnissen ein Angebotskonzept zu erarbeiten und den Ausbau erst dann zu planen, folgt Bahn 2050 dem Prinzip «Wer hat noch nicht, wer will noch mehr?»

Die sich daraus ergebenden konzeptlosen Ausbauten erzielen keine Wirkung, sondern führen zu einem teuren regionalen Flickwerk. Vor allem kann die Fahrplanstabilität nicht gewährleistet werden, und wie das Beispiel des Bahnhofs Lausanne zeigt, ergeben sich bei Schlüsselprojekten gravierende Verzögerungen. Guido Schoch erläutert diesen Missstand an Projekten wie dem Zimmerbergtunnel II oder dem Lötschbergbasistunnel. Eine weitere Verschlechterung verheisst die Überarbeitung des Angebotskonzepts 2035.

In der Perspektive Bahn 2050 sieht das BAV die Stossrichtung auf der Weiterentwicklung der Bahn auf kurzen und mittleren Distanzen. Dazu ein Auszug aus der oben erwähnten Präsentation von Peter Füglistaler. Dabei liegt der Fokus auf den Anzahl Wege pro Tag.

Stossrichtung Bahn 2050.

Guido Schoch widerspricht diesem Ansatz vehement. Die Umweltbelastung hängt nicht von der Anzahl Wege, sondern von den zurückgelegten Personenkilometern ab. Die vom BAV vorgeschlagenen Ausbauten, die sich primär auf kurze und mittlere Strecken konzentrieren sollen, basieren also gemäss Guido Schoch auf falschen Messwerten. Falsche Kennzahlen führen zu falschen Schlussfolgerungen.

Aussagen, wie der Fernverkehr gefördert werden soll, sind im besten Fall nebulös. Die Angst des BAV, dass Investitionen in die Beschleunigung des Fernverkehrs nur zu Mehrverkehr führt, ist unbegründet. Guido Schoch führt als Beispiel die Zunahme der Fahrgäste nach der Eröffnung des Gotthardbasistunnels an: 70 Prozent des Mehrverkehrs ist auf Umsteiger vom Auto auf die Bahn zurückzuführen. Dem Klima wird am wirkungsvollsten mit der Verlagerung beim internationalen Verkehr vom Auto und vom Flugzeug zur Bahn geholfen – und dieses Postulat setzt eine Beschleunigung des Fernverkehrs voraus. Dieser Sachverhalt wird selbst vom BAV im Bericht zu Bahn 2050 anerkannt.

Wirkung von Bahn 2050.

Guido Schoch belegt mit konkreten Beispielen die positive Wirkung von drastischen Fahrzeitverkürzungen auf wichtigen europäischen Korridoren sowie in den Basistunnels der NEAT.

Reisezeiten aus der Schweiz zu Zielen im Ausland.

Eindrücklich ist der Vergleich mit wichtigen Fernverkehrsverbindungen in der Schweiz. Geradezu ernüchtern ist die Verlangsamung der Reisen von der Schweiz nach Zielen im Ausland. Mit Ausnahme der Fahrt nach Paris sind die Reisezeiten aus der Schweiz nach wichtigen europäischen Zentren länger geworden.

Reisezeiten aus der Schweiz ins Ausland.

Guido Schoch befürchtet, dass sich einige Ausbauten von Bahn 2050 als Fehlinvestitionen erweisen werden. So wird das Fehlen eines langfristigen Fahrplankonzepts bemängelt. In mehreren Städten der Schweiz werden teure Tiefbahnhöfe geplant, wobei Vorstellungen für den Ausbau der Fernverkehrsverbindungen fehlen.

Der Tunnel Aarau-Zürich im Überblick.

Auf vehemente Kritik stösst die Tatsache, dass das von namhaften Experten erarbeitete Konzept «Bahn 2000 plus» – eine Neubaustrecke von Olten/Roggwil nach Zürich-Altstetten – vom BAV nicht einmal geprüft wurde, und dafür ein problematischer und extrem teurer Tunnel zwischen Aarau und Zürich vorgeschlagen wird. So würden die West/Ost- und Nord/Süd-Fernverkehrszüge auch weiterhin durch den stark belasteten Knoten Olten fahren.

Das Konzept Bahn 2000+ im Überblick.

Dabei sind gemäss Guido Schoch Neubaustrecken häufig billiger als der Ausbau bestehender Strecken: Der komplette Ausbau von Zürich-Olten wird am Ende mehr kosten als eine Neubaustrecke. Zudem ist die Beeinträchtigung des bestehenden Angebots während der Bauphase weitaus geringer.

Neubaustrecken sind oft billiger als der Ausbau bestehender Strecken.

Guido Schoch fasst am Ende seines Referats die Forderungen von SwissRailvolution für den zukünftigen Ausbau des schweizerischen Eisenbahnnetzes in folgenden Thesen zusammen:

  1. Es braucht eine langfristige Angebotsstrategie. Diese ist auf der Basis von Kundenbedürfnissen zu erarbeiten und in Form eines Fahrplans in einem Angebotskonzept zu konkretisieren. Erst dann ist der Ausbau der Infrastruktur zu planen.

    In diesem Zusammenhang weist Guido Schoch auf den stagnierenden Modalsplit nach dem Auslaufen der Impulse des «Bahn 2000-Effektes» hin.

  2. Die Politik und das BAV müssen endlich erkennen, dass man Überlegungen zum Angebot vor die Infrastrukturplanung stellen muss.

    Das Risiko, dass sich das Angebot auf der Schiene nach dem Ausbauschritt 2035 trotz immenser Investitionen auf vielen Relationen verschlechtert, steht im Raum.

  3. SwissRailvolution empfiehlt als Zielwert für die Planung der zukünftigen Eisenbahninfrastruktur eine Verdoppelung des Modalsplits der Eisenbahn von heute knapp zwanzig auf vierzig Prozent.

  4. Aufgrund der Tatsache, dass die Fahrzeit von Tür zu Tür das wichtigste Kriterium bei der Wahl des Verkehrsmittels ist, fordert SwissRailvolution ein «Verkehrskreuz Schweiz» mit Schnellfahrstrecken von Grenze zu Grenze, und das am europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz angebunden ist.

  5. Diese Schnellfahrstrecken werden auf den Bestandesstrecken Kapazitäten für den Lokal- und Regionalverkehr sowie für den Güterverkehr freisetzen. Zudem dürften sie durch die Trennung der Verkehrsarten die Stabilität des Betriebs fördern.
Forderungen von SwissRailvolution.

Kommentar

Die Bemühungen von SwissRailvolution verdienen uneingeschränkte Unterstützung. Endlich setzen sich erfahrene Fachleute und weitsichtige Politiker kraftvoll für die Modernisierung des schweizerischen Normalspurnetzes ein.

Dennoch sind die Vorschläge von SwissRailvolution meines Erachtens nur eine notwendige, jedoch keine hinreichende Voraussetzung für die Stärkung der Eisenbahn in der Schweiz. Es braucht weitere Massnahmen, wie etwa folgende:

  1. Beseitigung der zahlreichen und empfindlichen Schwachstellen im schweizerischen Normalspurnetz. Wir haben vor einigen Jahren mit Experten einen Katalog der Schwachstellen erarbeitet.
  2. Ausbau der grossen Knotenbahnhöfe und deren Anbindung an den öffentlichen Regional- und Lokalverkehr auf Schiene und Strasse. Und, in der Folge: Leistungssteigerung und Qualitätsverbesserung des öffentlichen Verkehrs in den Metropolitanräumen.
  3. Modernisierung des Tarif- und Billettsystems. In der Schweiz gibt es rund 20 heterogene Tarifverbünde und nur einen einzigen wirklichen Verkehrsverbund. Dieser administrative Moloch ist aus der Welt zu schaffen. Wir halten ein nationales Gesetz, wie dies etwa in Österreich der Fall, ist für die Reglementierung der Verkehrsverbünde für überfällig.
  4. Analyse und Neukonzeption der Corporate Governance des Systems des schweizerischen öffentlichen Verkehrs. Prof. Dr. Matthias Finger hat in seinem Buch «SBB – was nun?» eine präzise Analyse der Schwächen des Ist-Zustandes und Szenarien für die Organisation der Mobilität in der Schweiz vorgelegt.
  5. Die Investitionen in den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur sind nicht betriebswirtschaftlich, sondern volkswirtschaftlich zu begründen. Die betriebswirtschaftliche Argumentationsweise lässt unter anderem den nicht quantifizierbaren Nutzen ausser Acht und führt zu Fehlschlüssen.
  6. Konzeption der Nord/Süd-Verbindung – der weitere Ausbau der NEAT – aus europäischer und nicht aus nationaler Sicht. Dieses Postulat soll am Beispiel eines weiteren Ausbaus der NEAT im Tessin konkretisiert werden: Auf die diskutierte Neubaustrecke von Lugano nach Chiasso ist zu verzichten. Dafür braucht es eine Neubaustrecke vom Südportal des Gotthard-Basistunnels bei Pollegio entlang der Autobahn A2 zu einem neuen Fernbahnhof am südlichen Stadtrand von Bellinzona. Und ab hier bzw. ab Giubiasco einen direkten Tunnel à Niveau nach Chiasso oder Como.
  7. Erkenntnis, dass zur Erreichung dieser Ziele enorme Mittel und fundamentale Veränderungen notwendig sind. Auch ist ein erhöhter Realitätsbezug vonnöten. Beim Ausbauschritt 2035 handelt es sich de facto um eine Beseitigung von Altlasten und nur ansatzweise um einen Schritt in die Zukunft.

Ich wage keine Prognose, ob unser Land noch in der Lage ist, in Anbetracht der sich auch in anderen Bereichen öffnenden Finanzierungslücken diese gewaltigen Investitionen zu stemmen. Ich denke etwa an die Landesverteidigung, wo zur Erfüllung der «Zwei Prozent-Limite am BSP» jährlich zehn Milliarden CHF zusätzlich aufgewendet werden müssten. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.