Was in Spanien wirklich geschieht

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Unser Bericht vom Oktober 2019 über Bahnreisen in Spanien hat eine breite Beachtung gefunden und zu mehreren Reaktionen geführt. Einige davon waren recht kritisch – so wurden leere Bahnhöfe, überfüllte Züge und unwirtschaftliche Strecken bemängelt.

Diese Feststellungen sind zutreffend, aber sie vermitteln ein völlig falsches Bild von den epochalen Neuerungen in Spanien. Bemerkenswert ist auch die Berichterstattung über das Bahnprojekt «High Speed 2» in Grossbritannien in der Ausgabe der Neuen Zürcher-Zeitung vom 13. Februar 2020. Da wird argumentiert, dass Grossbritannien bezüglich Hochgeschwindigkeitsnetz weit hinter Frankreich und Deutschland zurückliegt. Von Italien und – eben von Spanien – kein Wort.

In diesem Beitrag möchten wir darlegen, um was es in Spanien unserer Meinung nach wirklich geht.

Ausgangslage

Das spanische Fernverkehrsnetz geriet in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zusehends ins Abseits. Die auf Breitspur verkehrenden Fernverkehrszüge boten trotz ihrem teilweise guten Komfort im nationalen Fernverkehr keine Alternative mehr zum Flugzeug oder zum Individualverkehr. Fünf oder mehr Stunden Reisezeit zwischen den Provinzhauptstädten und Madrid und nur wenige Verbindungen waren nicht mehr marktfähig.

Als Folge entwickelte sich der innerspanische Luftverkehr stürmisch. Gemäss dem unten wiedergegebenen Leitartikel aus der Ausgabe 289 von Today’s Railways Europe hat Spanien heute in Europa den weitaus grössten Anteil des Luftverkehrs am nationalen Personenfernverkehr.

Auszug aus Today’s Railways Europe 289
HG-Netz Spanien (Quelle: Wikipedia)

Bemerkenswert ist, dass dieses neue Hochgeschwindigkeitsnetz weitestgehend nach europäischen Normen wie Spurweite, Fahrstrom, Sicherheitssystem, etc. und völlig getrennt vom bestehenden Breitspurnetz konzipiert wurde. Die Feststellung, dass Spanien die Eisenbahn im Fernverkehr neu entdeckt hat, trifft wohl zu. Eine atemberaubende Leistung.

Betrieb

Im Rahmen des vierten Eisenbahnpakets der EU, welches unter anderem die Liberalisierung des gesamten europäischen Personenverkehrs auf der Schiene vorsieht, haben die für die Infrastruktur und den Betrieb des AVE-Netzes zuständigen Unternehmen ADIF von mehreren Eisenbahn-Verkehrs-Unternehmen EVU Offerten erhalten. Damit sollen der Verkehr auf den AVE Strecken weiter gesteigert und Engpässe beseitigt werden.

Von den Offerten von sechs europäischen EVU wurden drei berücksichtigt, nämlich diejenigen von RENFE Viajeros, Intermodalidad de Levante (ILSA) und Rielsfera (SNCF Voyagers Développement). An ILSA ist auch Trenitalia beteiligt. Alle drei EVU verfügen über einschlägige Erfahrungen im HG-Verkehr und über ausgereiftes Rollmaterial. Bereits heute verkehren auf dem spanischen AVE-Netz HG-Züge von Alstom, Siemens und Talgo.

Das neue Betriebskonzept geht mit einem massiv ausgebauten Angebot am 14. Dezember 2020 in Produktion.

Kommentar

Gelegentlich wird in Fachkreisen bemängelt, dass sich einzelne Linien von AVE aus betriebswirtschaftlicher Optik nicht rechtfertigen würden. Dabei wird ausser Acht gelassen, dass ein Verkehrssystem in seiner Gesamtheit zu betrachten ist und AVE immer noch in der Aufbauphase ist. Zudem kann man sich fragen, ob es besser ist, wenn auf einer Relation statt sechs HG-Zügen eine entsprechende Anzahl an Flugzeugen unterwegs ist.

Gemäss den beiden folgenden Schaubildern scheint die Verlagerung zu funktionieren.

Entwicklung Passagierzahlen in Spanien
Entwicklung des Modal-Split in Spanien im Vergleich mit der Schweiz – man beachte speziell den Zeitraum zwischen 2011 und 2017 (Quelle: Eurostat, Graphik durch den Verfasser)

Beeindruckend und visionär ist AVE auch im Vergleich zu den Gegebenheiten in Mitteleuropa. Nur mit der Elektrifikation von einigen Fernverkehrsstrecken und der epischen Diskussion um Treibstoffzuschläge für den Luftverkehr wird der Fernverkehr auf der Schiene nicht prosperieren. Selbst eine Verdreifachung des Preises für Flugpetrol kann den Modalsplit im Fernverkehr nur marginal zugunsten der Schiene verschieben.

Grund genug, die Entwicklungen in Spanien im Fokus zu behalten.

Nachtrag

Wie die beiden Grafiken zeigen, hat auch der nationale Luftverkehr in Spanien jüngst stark zugenommen – wohl als Folge der Erholung der spanischen Wirtschaft, wachsenden Billigangeboten und einer gewissen Sättigung des Angebots von AVE.

Die in diesem Bericht erwähnten Massnahmen der Eisenbahn zur weiteren Erhöhung ihres Marktanteils – weiterer Ausbau des Netzes, Inbetriebnahme neuer Strecken und Verdichtung der Fahrplans – sowie ein verstärktes Umweltschutzbewusstsein sind dringend.

Entwicklung des nationalen Luftverkehrs in Europa (Quelle CAPA)
Entwicklung des Modalsplit der Eisenbahn in Spanien (Quelle Statista.de)

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