Verkehrserschliessung Mendrisiotto – masslos und unkoordiniert

Vorbemerkungen

Im Zusammenhang mit der Besichtigung der Baustellen der Eisenbahnlinie von Mendrisio über Stabio nach Varese habe ich das Mendrisiotto mehrfach besucht. Dabei konnte ich über eine längere Zeitspanne die Verkehrserschliessung analysieren und zahlreiche Eindrücke sammeln. In diesem Bericht wird darüber berichtet.

Verkehrserschliessung aktuell

Die Teilstrecke von Mendrisio nach Stabio wurde mit dem Fahrplanwechsel 2014/2015 in Betrieb genommen. Im ersten Jahr verkehrten die Züge nur zu den Hauptverkehrszeiten am Morgen und am Abend. Mit dem Fahrplanwechsel 2015/2016 wurde das Angebot erheblich ausgeweitet – zurzeit verkehren an Werktagen auf der relativ kurzen Strecke 34 Zugspaare. Von Montag bis Freitag werden am Morgen und am Abend ergänzend je drei Busverbindungen ab Stabio nach Varese und zurück angeboten.

Postauto Schweiz AG führt von Montag bis Donnerstag 21 Busverbindungen von Mendrisio über Stabio zur Grenze bei Gaggiolo. An Freitagen verkehren zusätzlich zwei Spätbusse. An Samstagen werden 15 und an Sonn- und Feiertagen noch 12 Verbindungen angeboten. Gemäss den mir vorliegenden Informationen fuhren die Busse früher in das etwa 300 Meter hinter der Grenze in Italien liegende Gaggiolo weiter.

Von Gaggiolo aus fahren an Werk- und Schultagen von Clivio herkommend über zwanzig Busse nach Varese. Der unten gezeigte Fahrplan kann über diesen Link als PDF-Datei heruntergeladen werden: Autobus Varese-Clivio

In Gaggiolo stehen für die wartenden Fahrgäste zwei gemauerte Wartehallen zur Verfügung. An einem Gebäude sieht man noch Reste der ehemaligen Fahrplantafeln des Postautoanschlusses aus der Schweiz.

Würdigung

Die Situation ist in hohem Masse unbefriedigend und gekennzeichnet durch folgende Mängel:

  • Das Zugsangebot ist masslos. Am Vormittag und am Nachmittag verehren die vierteiligen Flirt Züge praktisch leer. Einige Male war ich von Mendrisio nach Stabio der einzige Fahrgast, und mehr als fünf Passagiere habe ich nie gezählt.

  • Auch der Anschlussbus von Stabio nach Varese wird kaum benutzt. Am 10. Januar 2017 war ich in dem in Stabio um 09.15 Uhr abfahrenden Bus bis Varese der einzige Fahrgast. Der Chauffeur führte auf meine Anfrage hin aus, dass die Busse generell nur spärlich benutzt würden.

  • Befremdend ist, dass der Bahnhof von Stabio eher peripher liegt und die Gemeinde mit dem Postauto weitaus besser erschlossen ist. Zudem fährt das Postauto bis zur Zollstation vor der Grenze weiter.
  • Weshalb bietet Postauto Schweiz AG an Werktagen 21 Kurse und die SBB 34 Züge an? Obschon der Bus die Region viel besser erschliesst!
  • Die Grenzkosten des völlig überrissenen Zugsangebots liegen pro Jahr bei mindestens CHF 1‘500‘000.-. Davon sind drei Viertel absolut überflüssig. Dafür verfaulen in mehreren Tessiner Bahnhöfen die Schwellen sogar auf den Durchfahrgeleisen, und im Mendrisiotto werden Ressourcen sinnlos verschwendet. Dazu folgt in den nächsten Tagen ein separater Bericht.
  • Auch die mögliche Schutzbehauptung dieser Verschwendung, man bereite das Publikum mit dieser Massnahme auf die Inbetriebnahme der integralen Strecke von Mendrisio nach Varese vor, ist nicht stichhaltig. Der Markt hat das Angebot nicht angenommen. Dafür ist es bei objektiver Betrachtung auch nicht prädestiniert.
  • Was denkt sich das Lokpersonal, das täglich eine grössere Anzahl von leeren Züge von Mendrisio nach Stabio und zurück führt? Als Lokführer würde ich mich versetzt fühlen! Der Spardruck auch auf dem Personal steigt!
  • Unverständlich ist auch, dass die Schweizer Postautos nicht mehr zur Bushaltestelle von Gaggiolo durchfahren und dort den Anschluss an die Busse nach Varese herstellen können. Zudem sind in der Schweiz kaum Informationen über das in den letzten Jahren stark erweiterte Busangebot in der Region Varese erhältlich.

Abschliessende Bemerkungen

Ein Einzelfall? Leider nein – es gibt in der Schweiz immer mehr ähnliche Situationen. Man denke etwa an die Übererschliessung des Klettgaus. Dabei fehlen unseren Bahnen die Mittel für die Instandhaltung der Infrastruktur, geschweige denn für die Beseitigung von Engpässen oder gar für weitere Ausbauten. Dazu ein Bild von einem stark befahrenen Gleis im Bahnhof Chiasso.

2 Gedanken zu „Verkehrserschliessung Mendrisiotto – masslos und unkoordiniert

  1. Prinzipiell ist die Strategie richtig, möglichst viele Autopendler von der Strasse auf Bahn und Bus zu locken. Dies funktioniert aber nur, wenn alle Faktoren stimmen: Fahrplangestaltung, Anschlüsse, Tarife, Benutzerfreundlichkeit, Errreichbarkeit, Zuverlässigkeit, Komfort etc.
    Beim Vorhaben Mendrisio – Varese bleibt die zentrale Frage weiterhin offen: werden die italienischen Pendlerinnen und Pendler nach Eröffnung der durchgehenden Bahnverbindung zwischen Mendrisio, Varese und weiter das Angebot annehmen, ihr Auto in der eigenen Garage oder an einem P+R lassen und mit der Bahn zur Arbeit in den Tessin fahren?
    Im Normalfall generiert ein attraktives Angebot die Nachfrage. Ob dies hier
    am Südzipfel auch funktioniert, wird uns die nahe Zukunft zeigen. Gewohnheiten lassen sich eben nur allmählich verändern, wenn überhaupt. Ob die Züge später durch Schweizer Malpensa-Flugpassagiere oder durch solche, die ins Wallis und in die Romandie reisen, zusätzlich gefüllt sein werden, möchte ich mal mit einem Fragezeichen versehen. Die Frequenzen der Centovallina werden es andeuten. Ein Unding ist es allerdings, bereits vor Erröffnung der durchgehenden Strecke so viele Züge zwischen Mendrisio und Stabio quasi leer pendeln zu lassen. Ob den verrottenden Schwellen in Chiasso und anderswo geholfen wäre, wenn es weniger Züge gäbe?
    Wollte man dem Kanton Tessin, welcher sich so gern von Bundesbern benachteiligt sieht, ein Beruhigungszückerchen verpassen und mittels einkalkuliertem Nebeneffekt auch der Lega etwas Wind aus den Segeln nehmen?

    • Sehr geehrter Herr Guillaume
      Vielen Dank für Ihren Kommentar und für Ihr Interesse an unserer Website. Darf ich dazu folgendes anmerken?
      1. Die Grenzgänger arbeiten teilweise zu sehr tiefen Löhnen. Dem Vernehmen nach sollen Buchhalter und Juristen aus Italien im Tessin gelegentlich nur CHF 4’000.- pro Monat verdienen. Vor diesem Hintergrund sind die günstigen Abonnemente des Arcobaleno (Verkehrsverbund Südschweiz) für sie wohl zu teuer. Da müsste man die Arbeitgeber verpflichten, ihren Grenzgängern kostenlose Abonnemente für den Arcobaleno zur Verfügung zu stellen. Unter Umständen könnte man die Gültigkeit auf die Arbeitstage beschränken. Diese Massnahme könnte durch die Reduktion der regelmässigen Staus auf dem Tessiner Strassennetz durch den Grenzgängerverkehr auch die fremdenfeindlichen Strömungen im Kanton Tessin mindern.
      2. Gemäss meinen Berechnungen liesse sich mit beschleunigten Zügen die Fahrzeit von Lugano nach Malpensa auf etwa 65 Minuten, und diejenige von Lugano nach Bern auf drei Stunden und nach Sitten auf etwa 2 1/2 Stunden reduzieren. Anlass also, das abwechselnde Führen der stündlich verkehrenden EC ab Zürich nach Milano Centrale oder nach Malpensa zu erwägen. Für den innerschweizerischen Gotthardverkehr wären ICN zwischen Basel, Luzern, Bellinzona und Locarno einzuführen. Die beiden Linien wären entweder in Arth-Goldau oder Altdorf zu verknüpfen. Als Vorbild kann das frühere Konzept auf der Jurasüdfusslinie dienen.
      3. Der nicht gerechtfertigte 30-Minuten-Takt durch den GBT wäre einzustellen. Spitzen wären wie früher mit kurz vorher verkehren Zusatzzügen aufzufangen. Mehr dazu in diesem Beitrag von Federico Rossi auf dieser Website: http://fokus-oev-schweiz.ch/2016/11/16/betriebskonzept-gbt-gotthard-basistunnel-zurueck-auf-feld-1/
      Freundliche Grüsse
      Ernst Rota

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