Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre schweizerische Gesamtverkehrs-Politik“

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Am 30. März 2022 fand im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern eine von über 200 Personen besuchte Veranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum der «Schweizerischen Gesamtverkehrs-Politik» statt. Der Bundesrat hatte vor fünfzig Jahren am 19. Januar 1972 einer Kommission unter der Leitung von Nationalrat Dr. Alois Hürlimann den Auftrag für die Erarbeitung einer schweizerischen Gesamtverkehrs-Konzeption erteilt.

Diese interessante Veranstaltung wurde organisiert von einem Team, bestehend aus Franziska Borer Blindenbacher, Jörg Oetterli, Paul Schneeberger und Peter Suter, in Zusammenarbeit mit dem Verkehrshaus der Schweiz und der Schweizerischen Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten. Gerne fassen wir in diesem Beitrag den Inhalt dieser Jubiläumsveranstaltung zusammen.

Zusammenfassung der Referate und Diskussionen

Einleitend begrüsst Martin Bütikofer, Direktor des Verkehrshauses der Schweiz, die Anwesenden und bedankt sich für das grosse Interesse an der heutigen Veranstaltung. Er erinnert an die Präsentation des Schlussberichts der Kommission Hürlimann 1977 im Verkehrshaus, und freut sich, dass die Jubiläumsveranstaltung auch im VHS stattfindet. Das VHS ist tatkräftig bestrebt, mit griffigen Fördermassnahmen die Begeisterung der Jugend für den Bau und den Unterhalt von Infrastrukturen zu wecken.

Dr. Christian Furrer, während der Amtszeit von Bundesrat Ogi Leiter des Generalsekretariats des seinerzeitigen Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartements, berichtet anstelle des krankheitshalber abwesenden alt Bundesrat Adolph Ogi über die Entstehung der Gesamt-Verkehrs-Konzeption GVK. Eindrücklich ist der kurze Film aus dem Jahr 1988, mit dem Adolf Ogi als soeben gekürter Bundesrat die verlorene Abstimmung über die Koordinierte Verkehrspolitik KVP kommentiert. Adolf Ogi vertritt die Auffassung, dass die Empfehlungen der GVK zu 90 Prozent umgesetzt wurden, und sieht bei der Abstimmungsniederlage der KVP Parallelen zur kürzlichen Ablehnung des CO2-Gesetzes. So hätten die Empfehlungen der GVK unter anderem den Weg für die LSVA, den Bahninfrastrukturfonds BIF und den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs Fonds NAF, die Tarifverbünde und die S-Bahnsysteme frei gemacht. Adolf Ogi glaubt sogar, dass die Erarbeitung der Gesetze für die Umsetzung der KVP die NEAT massiv verzögert hätte.

Gemäss Dr. Furrer darf das Jubiläum somit durchaus gefeiert werden. So wurde 1982 der Taktfahrplan Realität. Obschon von den Neuen Hochleistungs-Transversalen nur der Ast von Mattstetten nach Rothrist gebaut wurde, kann auf Schweizer Schienen zurzeit auf über 120 Kilometern mit 200 km/h gefahren werden.

Alt Regierungsrätin Dori Schaerer-Born, von 1992 bis 2002 Leiterin der Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern, führt aus, wie sie als ursprüngliche Gegnerin der Neubaustrecke von Mattstetten nach Rothrist, gemeinsam mit anderen, schlussendlich diesem Projekt zum Durchbruch verhalf. Dori Schaerer-Born erinnert an die Entstehung der NEAT im Spannungsfeld zwischen dem Gotthard- und dem Lötschberg-Komitee. Der Entscheid, sowohl die Gotthard- als auch die Lötschbergachse zu bauen, verhalfen der NEAT ihrer Meinung nach zum Durchbruch. Die Auseinandersetzung war in einem gewissen Sinn die Wiederauflage des seinerzeitigen Kampfes zwischen Alfred Escher und dem späteren Bundesrat Jakob Stämpfli um die Lage der ersten Alpenbahn in der Schweiz. Dori Schaerer-Born plädiert abschliessend für den vollständigen Ausbau des Lötschberg-Basistunnels auf Doppelspur.

Stefan Sandmeier, Historiker, stellt die Erarbeitung der Gesamtverkehrs-Konzeption und ihre Ablehnung in einen grösseren historischen Zusammenhang. Um 1970 existierte in der Schweiz in vielen Bereichen ein starker Planungsoptimismus. Der Bau des Autobahnnetzes war in vollem Gang, und die Zunahme der Mobilität vor allem auf der Strasse stieg rasant. Die Bahnen rutschten in die roten Zahlen, und in der Öffentlichkeit wuchs der Wunsch, die Verkehrsbedürfnisse möglichst effizient, wirtschaftlich und umweltfreundlich sicherzustellen. Neuartige Simulationsmodelle im Zuge der Einführung von Computern und das lange Wirtschaftswachstum nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges förderten den Glauben an die Berechenbarkeit der Zukunft.

Wegen den von den USA ausgehenden gesellschaftlichen Trends und dem Erstarken des neoliberalen Gedankenguts wuchs die Kritik an den gesamtheitlichen Konzepten – so auch bezüglich des Verkehrs. Auch in der Schweiz nahm der Glaube an die Gestaltungskraft des freien Marktes überhand, wie unter anderem der seinerzeitige Leitsatz der FDP «Mehr Freiheit, weniger Staat» belegt. So war die Ablehnung der sich stark an die Empfehlungen der GVK anlehnenden Verfassungsbestimmungen über die Koordinierte Verkehrs-Politik KVP im 12. Juni 1988 nicht überraschend. Überrascht hat nach der deutlichen Zustimmung zu Bahn 2000 am 19. Dezember 1986 höchstens die deutliche Ablehnung der KVP.

In einem Panelgespräch mit den drei Referenten werden vor dem Mittagessen verschiedene Aspekte der Referate diskutiert. Dr. Christian Furrer erläutert anhand der Entstehung der «Transjurane», der heute wenig befahrenen Nationalstrasse A16, durch den Jura die Wichtigkeit von Verkehrsachsen für die nationale Kohäsion in der Schweiz. Das Aufkommen der Elektromobilität und von neuen Technologien stellt die traditionelle Finanzierung von Verkehrsprojekten über Treibstoffzölle zunehmend in Frage. Neue Lösungsansätze sind gefordert. Stefan Sandmeier sieht aufgrund einer Anfrage aus dem Publikum noch keine Renaissance von gesamtheitlichen Planungskonzepten.

Nach der Pause erläutert Dr. Ulrich Seewer, Vizedirektor im Bundesamt für Raumplanung ARE, den kürzlich publizierten Sachplan Verkehr. Der Sachplan Verkehr setzt sich zusammen aus dem «Programm» als Rahmen für die langfristige Entwicklung des Gesamtverkehrssystems in der Schweiz, sowie aus den Teilinfrastrukturprogrammen für dessen Umsetzung (Schiene, Strasse, Luftfahrt und Schifffahrt).

Im Gegensatz zu früheren Planungen wird auch der Langsamverkehr wie Fahrräder und Fussgänger berücksichtigt. Die Planung basiert auf der Raumplanung, von Verkehrsprognosen und den Anforderungen nach einer nachhaltigen Entwicklung. Dargestellt werden die Ergebnisse in zahlreichen Handlungsräumen.

Dr. Benedikt Weibel, langjähriger CEO der SBB AG, formuliert Gedanken zur nachhaltigen Mobilität. Die Klimaziele 2050 sind für ihn feste Verpflichtung. Der Verkehr ist in der Schweiz mit wachsendem Anteil für 30 Prozent der Immissionen verantwortlich. Das Zeitfenster für den Wandel wird immer enger. Dr. Benedikt Weibel plädiert für eine Erhöhung der Auslastung der bestehenden Systeme. Neubauten von Infrastrukturen dauern viel zu lange und sind oft generationsübergreifende Projekte. Neue Technologien können den CO2-Anfall senken. Gemäss seinem breit kommentierten Artikel in der Neuen Zürcher-Zeitung hält er den Einzelwagenladungsverkehr auf der Schiene in der Schweiz für überholt. Die Distanzen sind einfach zu gering. Zudem muss der Ausbau aller Verkehrsträger kritisch hinterfragt werden. Auch fordert Dr. Benedikt Weibel Zurückhaltung bei der weiteren Verdichtung des Angebots im öffentlichen Verkehr.

Prof. Dr. Maike Scherrer, ZHAW School of Engineering, fordert in ihrem Referat «Gütermobilität von morgen – kollaborativ, vernetzt, multimodal» eine engere Abstimmung zwischen den Verkehrsträgern und für neue Lösungsansätze.

Prof. Dr. Ueli Haefeli, Interface Politikstudien, unternimmt in seinem Referat «Immer mobiler» den Versuch, den Verkehr über einen Zeitraum von 200 Jahren zu überblicken. Nur dank hohen Investitionen in die entsprechenden Infrastrukturen konnte der öffentliche Verkehr seinen Marktanteil in der Schweiz in den letzten fünfzig Jahren von 18 auf 24 Prozent steigern. Prof. Dr. Ueli Haefeli spricht vom «Märchen der steigenden Mobilität» und meint, dass nur die Verkehrsleistungen wirklich gewachsen sind.

Prof. Dr. Ueli Haefeli beurteilt die GVK ’75 zusammenfassend als Erfolg. Eine aktualisierte GVK 2022 wäre nützlich und sollte vor allem den Verkehr in Agglomerationen und Mobilitätshubs regeln. Die getrennten Kassen für den MIV und den öffentlichen Verkehr werden weiterhin regionalpolitische Verteilkämpfe hervorrufen und die Effizienz des Gesamtsystems schwächen. Digitalisierung, demografischer Wandel und Klimawandel stehen als grosse Herausforderungen im Raum.  Auch die Beschränkung auf den nationalen Rahmen ist zu eng (Luftfahrt, Güterverkehr etc.). Mobilität aber, so der Referent, bleibt dennoch ein schillerndes Phänomen und ist damit nur beschränkt steuerbar.

Das abschliessende Panel dreht sich um die vordringlichsten Massnahmen. Dr. Benedikt Weibel wiederholt seine Forderung nach einer Überprüfung von weiteren Ausbauten. Ulrich Seewer plädiert für eine «10’000-Schritte-Gesellschaft» und fordert gesamtheitliche Massnahmen, zu denen auch das Mobility Pricing gehören sollte. Bei den Gütertransporten hat sich die LSVA als verbrauchsabhängige Steuer ja auch durchgesetzt.

Auch die Multimodalität ist zu fördern. Grundsätzlich sollten die Raumplanung und das Home Office die Mobilität reduzieren. Problematisch ist der hohe Anteil des MIV beim Freizeitverkehr. Werner Stohler bezeichnet den Freizeitverkehr als Materialschlacht. Das E-Bike wird als effizientes und umweltfreundliches Transportmittel gelobt.

Ein Votant bemängelt, dass auf dem Podium keine Politiker sitzen. Er glaubt, dass wir uns im Kreis drehen. Wie weit steht die breite Bevölkerung hinter den vorgeschlagenen Massnahmen?

Peter Suter, ehemaliger Leiter der Sektion Alptransit im Bundesamt für Raumplanung, schliesst die interessante Jubiläumsveranstaltung und teilt die Meinung, dass die GVK durchaus einen praktischen Nutzen hatte und einer Jubiläumsfeier würdig ist.

Kommentar

Zum Abschluss möchte ich ein paar persönliche Bemerkungen anbringen. Nun, in den letzten fünfzig Jahren hat sich viel bewegt. Tatsächlich entspricht der aktuelle rechtliche Rahmen in vielen Aspekten den Vorschlägen der GVK. Auch sind in struktureller und infrastruktureller Hinsicht bedeutende Fortschritte zu verzeichnen – man denke an die kantonsübergreifenden Tarifverbünde oder an die NEAT.

Andererseits ist zu viel auf der Strecke geblieben. Ich denke etwa an den Niedergang des nationalen Güterverkehrs. In beiden Schlussvarianten der GVK ging man von zahlreichen Rangierbahnhöfen mit einer Verschiebekapazität von total über 40’000 Güterwagen pro Tag aus. Auch fehlen weiterhin drei so wichtige Neubaustrecken wie Bern-Lausanne (und Genf), dritter Juradurchstich oder Zürich-Winterthur-St. Gallen. Der Stückgutverkehr mit der Eisenbahn als Rückgrat wurde Privaten übertragen.

Auch fehlen im Gegensatz zum Nationalstrassennetz Vorstellungen über den weiteren strategischen Ausbau der Schieneninfrastruktur. Im Rahmen des Ausbauschritts 2030/2035 werden im besten Fall seit langem bekannte Schwachstellen im schweizerischen Eisenbahnnetz beseitigt. Der Ausbau der NEAT zu einer wirklichen transeuropäischen Güterverkehrsachse ist fatalerweise kein Thema.

Als besonders bedrohlich sehe ich den Sachverhalt, dass das Gewicht der Legislative bei der Verkehrsplanung abgenommen hat, und viel in die Verwaltung verlagert wurde. Ich erinnere daran, dass der Lead bei der GVK, vertreten durch ihren starken Nationalrat Alois Hürlimann, eigentlich bei der Legislative lag.

Dieser Paradigmenwechsel ist mit einem zusehends reaktiv agierenden und wenig Führungsstärke vermittelnden Bundesrat kein gutes Omen für die Zukunft. Ich orte – wie in anderen Bereichen der Politik – bei der aktiven Gestaltung unseres Verkehrssystems Orientierungslosigkeit und abnehmende Gestaltungskraft.

 

2 Gedanken zu „Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre schweizerische Gesamtverkehrs-Politik“

  1. Danke für den aufschlussreichen Beitrag. Es hat sich in der Tat einiges bewegt in der Schweiz in den letzten 50 Jahren. Und trotzdem muss man feststellen, dass unsere nationale Infrastruktur immer noch Schwachstellen aufweist und immer wieder dieser zentralistische Drang an die Oberfläche kommt. Genf – Lausanne bleibt so eine Schwachstelle, wahrscheinlich auch in den nächsten 50 Jahren! Olten – Basel wird auch immer eine Schwachstelle bleiben, auch mit einem 3. Juradurchstich. Warum muss alles nach Olten zentralisiert werden? Der Güterverkehr zum Lötschberg müsste neben Olten vorbei geschleust werden! Auch Olten – Zürich ist ein Nadelöhr, das bei einem Grossereignis zum Stolperstein werden kann! Gerade letzte Woche höhrte ich am Radio eine Meldung, dass zwischen Zürich und Olten die Züge ausfallen? Das darf doch nicht passieren! Eine Woche vorher war die gesamte Gotthardstrecke lahm gelegt wegen eines Serverabsturzes? Das Autobahnnetz ist nicht besser aufgestellt und weist auch unzählige Schwachstellen auf. Es mangelt in der Schweiz an Pioniergeist!

    • Lieber Herbert

      Vielen Dank für Deinen Kommentar und für Dein Interesse an unserer Website.

      In der Tat scheinen sich die groben Systemausfälle zu häufen. Das dürfte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass unser Schienennetz an neuralgischen Punkten bis an die Kapazitätsgrenze ausgelastet ist. Die zahlreichen Schwachstellen machen die angestrebte weitere Verlagerung des Personenverkehrs auf die Schiene unmöglich.

      Vor allem in den grossen Metropolitanräumen Lac Léman und Zürich besteht grosser Handlungsbedarf. Hier sollten die Verkehrsarten endlich getrennt werden. Fatalerweise geschieht mit dem Seitenanschluss an den Brüttenertunnel aus Dietlikon – verbunden mit der Rückverlegung von Teilen des Fernverkehrs auf die Achse Zürich-Oerlikon – Wallisellen genau das Gegenteil. In diesem dicht bebauten Raum hat der Fernverkehr nichts verloren.

      Und noch ein Wort zum Transitgüterverkehr – ich hielt und halte die Lötschberg-Simplon-Achse als Bestandteil eines leistungsfähigen europäischen Güterverkehrskorridor für höchst ungeeignet. Es braucht meines Erachtens für den europäischen Schienengüterverkehr je eine eigene Strecke von Basel zum Nordportal des GBT bzw. vom Südportal des GBT nach Italien (aber bitte nicht über Lugano).

      Nochmals vielen Dank für Deinen Kommentar und weiterhin viel Freude an unserer Website.

      Freundliche Grüsse

      Ernst Rota

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