Avenir Mobilité – Verkehr und Raumplanung – gelingt die Koordination?

Vorbemerkungen

Avenir Mobilité – die Dialog-Plattform für intelligenten Verkehr – führte am 27. Oktober 2017 im Rolex Learning-Center an der EPFL ein weiteres aktuelles und interessantes Symposium durch. Zahlreiche kompetente Referentinnen und Referenten äusserten sich in Inputreferaten oder bei Plenumsdiskussionen zur Frage, ob und wieweit in der Schweiz die Koordination zwischen der Verkehrs- und der Raumplanung gelungen ist.

Hier das Programm der Veranstaltung, über die wir anschliessend kurz berichten:

Die Dynamik der Raumentwicklung – Auf dem Weg zur Metropolitanregion Schweiz

Pierre Dessemontet legte anhand einer beeindruckenden Datensammlung die Entwicklung der Schweiz von einem bäuerlichen Agrarstaat zu einer de-facto Metropolitanregion dar. Während 1850 erst rund neun Prozent der Schweizer Bevölkerung in Städten und 91 Prozent auf dem Land lebten, leben heute (2012) nur noch acht Prozent „auf dem Land“, hingegen 34 Prozent in Städten, 51 Prozent in Agglomerationen und 16 Prozent in der weiteren Umgebung der Ballungszentren.

Nicht weniger eindrücklich ist, dass 1950 nur 17 Prozent der Erwerbstätigen nicht in ihrer Wohnsitzgemeinde arbeiteten, während 2013 67 Prozent der Erwerbstätigen nicht mehr an ihrem Wohnort arbeiten konnten. Dieser Sachverhalt ist einer der Treiber für die rasante Zunahme der Mobilität.

Absolut und relativ hat der MIV am Pendeln seit 1950 am meisten zugelegt. Der Anteil der mit dem öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegten Arbeitswege ist im Vergleich zum MIV weit weniger gestiegen.

Pierre Dessemontet erläutert mit einer Fülle von Daten den Modalsplit der Verkehrsmittel für den Arbeitsweg in Abhängigkeit von der Region und vom Alter der Arbeitnehmer. Interessant ist,  dass die jungen Arbeitsnehmer für das Pendeln viel stärker auf den öffentlichen Verkehr setzen als die Älteren. Dessemontet folgert aus den Trends, dass sich die Schweiz weiter zu einer Metropolitanregion entwickeln und dass der Anteil des öffentlichen Verkehrs am Pendeln überproportional zunehmen wird.

Wie weit sind die Kantone?

Jacqueline de Quattro, Staatsrätin im Kanton Waadt, und Barbara Egger, Regierungsrätin im Kanton Bern, erläutern anhand von konkreten Projekten die Bildung von Entwicklungsschwerpunkten in ihren Kantonen. In beiden Kantonen wird grösster Wert auf die Abstimmung der Raum- mit der Verkehrsplanung gelegt.

Mit PALM (Grossraum Lausanne) und Bern-Wankdorf heben sich in beiden Kantonen je ein besonders erfolgreiches und grosses Entwicklungsprojekt aus den vielen analogen Vorhaben ab. Bei beiden erfolgreichen Vorhaben ist/war die Abstimmung der Raum- mit der Verkehrsplanung beispielhaft. Beispielsweise wurden bei Bern-Wankdorf zuerst die Anbindung an den öffentlichen Verkehr ausgebaut, und zwar mit durchschlagendem Erfolg, indem heute weniger als die Hälfte der Arbeitswege mit dem MIV zurückgelegt werden.

Die Ausführungen der beiden Regierungsrätinnen belegen, dass die Abstimmung der Raum- mit der Verkehrsplanung in einigen Kantonen durchaus erfolgreich verläuft.

1. Paneldiskussion

Einleitend vertritt Patrick Eperon die Auffassung, dass bei der Verkehrsinfrastruktur generell ein erheblicher Rückstand besteht. Jacqueline de Quattro pflichtet Eperon bei. Erfreulicherweise sei es gelungen, das Einvernehmen zwischen den Befürwortern des öffentlichen und des Individualverkehr zu fördern, was der Abwicklung von grossen Projekten sehr zuträglich sei.

Barbara Egger bemängelt den langen Zeithorizont beim Ausbau der Eisenbahninfrastruktur und spricht sich mit Nachdruck für den überfälligen Ausbau des öffentlichen Verkehrs aus. Sorge bereitet ihr jedoch der lange Zeithorizont. Wer weiss, wie die Welt im Jahr 2035 aussieht? Die teuren Spitzenbelastungen müssen mit flankierenden Massnahmen wie Heimarbeitsplätze, gleitende Arbeitszeiten oder gestaffelte Stundenpläne von Schulen ergänzt werden. Allerdings seien nicht zuletzt bei Schulen erfahrungsgemäss erhebliche Widerstände zu überwinden. In einem kurzen Abstecher zum nächsten Ausbauschritt bei der Eisenbahn fordert Barbara Egger einen Ausbau des Lötschberg-Basistunnels und der Grimselbahn. Bemängelt wird die Konzentration der Ausbauprojekte im Grossraum Zürich.

Wie wird das „Raumkonzept Schweiz“ umgesetzt? / 1. Referat

Ulrich Seewer fasst die Entstehungsgeschichte des „Raumkonzept Schweiz“ zusammen. Die Siedlungsstruktur der Schweiz hat die Raumentwicklung entscheidend geprägt. Die föderale Struktur unseres Landes hat die Entwicklung kaum beeinträchtigt. Zu bedenken ist die Autonomie der Gemeinden bei der Ausscheidung von Bauzonen im Rahmen der übergeordneten Gesetze. Man prognostiziert bis ins Jahr 2040 einen weiteren Anstieg des öffentlichen Verkehrs um 40 Prozent.

Dem „Raumkonzept Schweiz“ liegt ein Paradigmenwechsel zugrunde. Verkehr und Raumentwicklung sind aufeinander abzustimmen. Das UVEK strebt bis 2040 ein in allen Aspekten effizientes Verkehrssystem an. Diese Strategie wird auf der Grundlage des Raumkonzepts im „Sachplan Verkehr“ konkretisiert.

Mit den vom Bund geförderten Agglomerationsprogrammen wird eine gesamtheitliche und nachhaltige Entwicklung von Verkehr, Siedlungsstruktur und Umwelt angestrebt.

Wie wird das „Raumkonzept Schweiz“ umgesetzt? / 2. Referat

Peter Füglistaler erläutert anhand einer Folie den Ausbauschritt 2030/2035 für die Eisenbahninfrastruktur. Die zugrunde liegende Nachfrage für den Personenverkehr wurde aus dem Raumkonzept und den kantonalen Entwicklungskonzepten abgeleitet. Analog wurde die mutmassliche Entwicklung des Güterverkehrs abgeschätzt.

Die Projekte wurden streng objektiv nach den Kriterien (1) Bewertungsschema Niba, (2) Abbau der Überlast, (3) Langfristperspektive Eisenbahn und (4) Raumentwicklungsziele bewertet.

In einem Ausblick auf den Stand der Vergabe der Fernverkehrskonzessionen erläutert Peter Füglistaler den Begriff „Fernverkehr“. Die Zentren sollen in Abhängigkeit von ihrer Grösse möglichst direkt verbunden werden. Die funktionalen Kriterien basieren auf dem „Raumkonzept Schweiz“. Dieses hat sich als nützlicher Orientierungsrahmen erwiesen, wobei situative Anpassungen unumgänglich sind. Die Akzeptanz ist trotz anhaltenden Widerständen gestiegen.

2. Paneldiskussion

Philippe Gauderon bezeichnet das Verkehrssystem als einen der entscheidenden Erfolgsfaktoren der Schweiz. Für den weiteren Ausbau gelten folgende Randbedingungen, nämlich (1) Ausnützung der technologischen Möglichkeiten, (2) Reduktion der Betriebskosten und (3) rationelle und kostengünstige Abwicklung der Projekte.

Luc Barthassat, Staatsrat Kanton Genf, unterstreicht die Dimension und das Gewicht der Metropolitanregion Genf mit rund einer Million Einwohnern und rund 570’000 Arbeitsplätzen. Im weiteren Verlauf der Diskussion kritisiert Luc Barthassat anhand einer Übersicht die Konzentration der Massnahmen des Ausbauschritts 2030/2035 im Grossraum Zürich.

Philippe Gauderon kann die Kritik von Luc Barthassat nachvollziehen. Peter Füglistaler weist jedoch darauf hin, dass die SBB im Raum Genf-Lausanne in diesen Jahren über CHF 4,5 Mia. investieren und die Anliegen des Kantons Zürich im Ausbauschritt 2025 stiefmütterlich behandelt wurden.

Daniel Mange schaltet sich aus dem Publikum in die Diskussion ein und plädiert basierend auf seinem „Bahnplan 2050“ für eine Neubaustrecke zwischen Genf und Lausanne. Die heutigen Massnahmen sind ein Flickwerk und kurzfristig angelegt.

Paul Schneeberger bemängelt, dass bei der Abstimmung der Raumplanung mit der Verkehrsplanung die Boden- und Raumeffizienz unzureichend berücksichtigt wurde. Schneeberger vermisst die übergeordnete Klammer und bedauert, dass zu wenig gestaltet wird.

China oder Schweiz – Peter Füglistaler betont, dass die Planung letztlich eine politische Entscheidungsfindung ist. Die politischen Entscheide seien von den Bundesstellen zu akzeptieren. Im Gegensatz zur bisherigen Entwicklung müsse die Planung verstärkt grenzüberschreitend erfolgen, beispielsweise im Grossraum Basel, im Kanton Tessin oder im Vorarlberg.

Paul Schneeberger vermisst den unzureichenden Einbezug der Bevölkerung in die Planungen. So hat das Projekt DML in Zürich kaum zu einer öffentlichen Diskussion geführt – andere Konzepte wurden nie ernsthaft erwogen.

Zusammenfassung Plenumsdiskussion

Ulrich Seewer rechnet damit, dass die Schweiz weiter wachsen wird. Er schätzt, dass 2040 in der Schweiz 10 Mio. Menschen und 2060 11 Mio. Menschen wohnen werden. Der Ausbauschritt 2030/2035 basiert auf 10 Mio. Einwohnern.

Philippe Gauderon ist unsicher, ob der Schienengüterverkehr die im Ausbauschritt 2030/2035 geplante Entwicklung tatsächlich durchlaufen wird.

Paul Schneeberger bemängelt das Fehlen von Alternativen in der laufenden Planung.

Daniel Mange bezeichnet die für den weiteren Ausbau der Bahninfrastruktur bereit stehenden Mittel als unzureichend. Philippe Gauderon gibt zu Bedenken, dass Neuinvestitionen zu höheren Betriebskosten führen.

Verschiedene Referenten halten übereinstimmend fest, dass die Schweiz dank den Fonds über ausreichende Mittel für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur verfügt – eine Situation, um die uns europäische Staaten beneiden.

 

3 Gedanken zu „Avenir Mobilité – Verkehr und Raumplanung – gelingt die Koordination?

  1. … Aber kein Wort, dass über eine intelligente Raumplanung das Verkehrswachstum zumindest beeinflusst werden kann. Es gilt immer noch, dass die beste Mobilität diejenige ist, die (dank intelligenter Raumplanung) gar nicht erst entsteht. Aber davon ist nichts zu spüren, Hauptsache, das Baugewerbe hat viel zu tun.

  2. Ich kann mich Martin Gross nur anschiessen: Verkehr vermeiden muss die Devise sein. Die Anreize sind heute völlig falsch gesetzt: wer einen kurzen Arbeitsweg hat muss belohnt, wer einen langen Arbeitsweg hat, belastet werden. Weg mit den Steuerabzügen und hin zu einem Anreizsystem für kurze Arbeitswege.
    Fritz Meier, Bern

    • Sehr geehrte Herren Meier und Guillaume

      Vielen Dank für Ihre Kommentare und für das Interesse an unserer Website. Darf ich hier zu beiden Kommentaren kurz Stellung nehmen:

      1. Die Beurteilung ist möglicherweise etwas hart. Immerhin wurde vor allem beim ESP Bern-Wankdorf – und mit einigem Erfolg – das Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr stark gefördert.

      2. Natürlich ist kein Verkehr an und für sich erstrebenswert.

      3. Aber unser Leben ist geprägt von einer weiteren starken Zunahme der Mobilität. Ich finde deshalb, dass man den Verkehr viel stärker auf den öffentlichen Verkehr ausrichten sollte.

      4. Persönlich erachte ich die laufende Diskussion als zu „akademisch“ – ich halte die Beseitigung der unsäglichen Engpässe im normalspurigen Schienennetz für vordringlich. Die Liste ist episch, und die Engpässe stellen sich jedem weiteren Ausbau gegenüber und gefährden mittelfristig auch die Qualität des Verkehrs. Ehe man Neues wagt, sollte man zuerst die Altlasten beseitigen.

      Nochmals besten Dank und weiterhin viel Freude an http://www.fokus-oev-schweiz.ch.

      Freundliche Grüsse

      Ernst Rota

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