Güterzug am Gotthard entgleist – Krisenmanagement der SBB ein Fiasko

Am Freitag, 18. Dezember 2015, fuhr ich mit dem Interregio 2336 von Bellinzona Richtung Norden. In den beiden Wagen der 1. Klasse befanden sich vier Passagiere. Im eleganten Panoramawagen waren wir zu Zweit. In den vier Wagen der 2. Klasse reisten rund 35 Fahrgäste. Der pünktlich abfahrende Zug hielt kurz vor 18.30 Uhr im Bereich des aufgelassenen Bahnhofs von Bodio überraschend an. Nach einem längeren Unterbruch verkündeten die Zugbegleiter, die Weiterfahrt des Zuges verzögere sich aus technischen Gründen um ein paar Minuten. Etwas später erfuhren die Fahrgäste, der Zug könne infolge der Entgleisung eines Güterzuges seine Fahrt nicht fortsetzen, und weitere Informationen würden folgen.

Ich wandte mich an einen der beiden Zugbegleiter und bat ihn um weitere Angaben. Der freundliche Herr telefonierte intensiv mit einer Stabsstelle in Bern. In den folgenden Minuten jagten sich die Szenarien. Von der Rückführung des Zuges bis zum Verlassen des Zuges wurde gesprochen. Gegen 19.10 Uhr wurden die Passagiere gebeten, sich in den hintersten Wagen zu begeben, um von dort auf den ehemaligen Bahnsteig von Bodio hinüber zu steigen. Die Zugbegleiter halfen den teilweise betagten Passagieren beim Aussteigen.

Bodio Zug

Anschliessend warteten wir vor dem schwach beleuchteten Bahnhofgebäude auf weitere Instruktionen. Nach längeren Telefonaten baten die Zugbegleiter die Passagiere, sich in ein benachbartes Restaurant zu begeben und dort auf Kosten der Bahn etwas zu sich zu nehmen. Des Weiteren wurde mitgeteilt, dass wir mit einem Extrabus weiter befördert würden.

Bodio Bhf

Ich wartete mit zwei anderen Passagieren vor dem Restaurant und sah, dass um 20.11 Uhr der reguläre Bahnersatzbus Richtung Norden fahren würde. Kurz nach 20.00 Uhr verliessen die Mitreisenden den Gasthof und stiegen in den regulären Bus nach Airolo ein. Nach einer Fahrt von 15 Minuten traf der Bus in Faido ein. Da bot sich uns ein sagenhaftes Bild. Bilder, wie man sie sonst nur aus den Medien kennt.

Faido 2

Über hundert Fahrgäste von anderen Zügen warteten dort im ebenfalls dunklen Bahnhofgebäude. Immerhin hatten ein paar guten Seelen den Fahrgästen warme Getränke besorgt. Auf dem Bahnsteig stand ein leerer Interregio Zug, die Lokomotive war bereits umgespannt. Gemäss dem Fahrplan hätte um 20.42 Uhr ein IR in Faido Richtung Norden abfahren müssen. Die Bus- und Bahnmitarbeiter diskutierten, was zu tun sei. Weitere Telefonate nach Bern folgten. Niemand wusste Rat. Eine Führung war nicht erkennbar. Hilflosigkeit war angesagt.

Faido 1

Um 20.45 Uhr setzte unser Bus seine Fahrt Richtung Airolo weiter, wo er kurz nach 21.00 Uhr eintraf. In Airolo warteten Hunderte von Passagieren in völliger Dunkelheit auf die Weiterreise. Mehrere Personen versuchten, in unseren Bus zu gelangen. Mit dem Hinweis, es handle sich um einen regulären Bus mit vielen Zwischenhalten, konnte man die oft verzweifelten Menschen von ihrem Vorhaben abhalten. Uns boten sich traurige Bilder – einige der Passagiere warteten seit rund drei Stunden. Auch in Airolo waren weder Führung oder – im Gegensatz zu Faido – noch Fürsorge erkennbar.

Unsere Gruppe begab sich zum Fahrsteig. Ein freundlicher Bahnmitarbeiter kündigte an, dass um 21.18 Uhr ein direkter Zug nach Zürich fahren würde. Um 21.15 Uhr fuhr aus Süden eine Doppelkomposition eines Neigezuges mit total 14 Wagen ein. Einsteigen durfte man aber nicht. Dafür folgten innert fünf Minuten drei sich völlig widersprechende Lautsprecherdurchsagen. Um 21.30 Uhr fuhr der besagte Interregio von Faido her kommend ein. Wir bestiegen den neu Richtung Basel fahrenden Zug und erreichten um 22.40 Arth-Goldau. Dort stiegen die meisten Mitfahrer um. Nach kurzer Wartezeit fuhr der erwähnte ICN ein, mit dem wir Zürich kurz nach 23.30 Uhr erreichten.

Hier in Stichworten eine kurze Würdigung des Erlebten:

  1. Das Notfallszenario wirkte völlig hilflos. Nicht nur die Fahrgäste, sondern auch die sichtlich bemühten Mitarbeitenden der Bahn wirkten desinformiert und waren sichtlich überfordert – eine Führung fehlte schlichtweg. Chaos herrschte.
  2. Die Frage steht im Raum, was bei einem ernsthafteren Ereignis oder bei den für diese Jahreszeit sonst üblichen klimatischen Verhältnissen – Kälte und Schnee – geschehen wäre.
  3. Weshalb hat man nicht einen der leeren Züge nach Airolo geführt und dort den wartenden und frierenden Passagieren als Warteraum zur Verfügung gestellt?
  4. Freitag, 18. Dezember 2015, war in anzunehmender Weise einer der reisestärksten Tage Richtung Süden – Wochenendverkehr und Weihnachtsferien.
  5. Einmal mehr zeigte sich die Problematik der zwischen Bellinzona und Arth-Goldau nicht mehr besetzten Bahnhöfe. Bei den SBB wird viel von Kundenfreundlichkeit gesprochen. Wahrscheinlich würden das Management besser ergründen, was der Begriff beinhaltet, und entsprechend handeln.

Weit unten im Berg befindet sich der Gotthard Basis-Tunnel. Aus Sicherheitsgründen wurde zwischen den beiden einspurigen Tunnels im Abstand von 375 m ein aufwändig eingerichteter Verbindungsstollen gebaut – geschätzte Kosten pro Stollen rund CHF 6,0 Mio. Bei etwa 170 Einheiten Investitionen von etwa CHF 1 Mia. Bei einem Kostensatz von 4 Prozent für Zinsen, Abschreibungen und Unterhalt also CHF 40 Mio. pro Jahr. Würde man nun die Bahnhöfe von Biasca, Faido, Airolo, Göschenen und Wassen zwischen 06.00 Uhr und 22.00 Uhr mit je einem Mitarbeiter besetzen, würde dies zu jährlichen Betriebskosten von CHF 3,0 Mio. führen (20 Personaleinheiten à CHF 150’000.- pro Jahr). Der Gewinn an Sicherheit – verstanden als Produkt von maximaler Schadenhöhe und Eintretenswahrscheinlichkeit – wäre ungleich höher. Gesteigert würden auch die Servicequalität und die Ordnung an den genannten Bahnhöfen.

 

 

4 Gedanken zu „Güterzug am Gotthard entgleist – Krisenmanagement der SBB ein Fiasko

  1. Das Ziel der SBB war ja einmal das gesamte Netz aus einer Betriebszentrale zu steuern! Heute sind es deren 5, wenn man die Zentrale der BLS in Spiez dazu nimmt. Bei dem dichten Verkehr auf dem Schweizerischen Bahnnetz läuft der Betrieb eigentlich noch recht gut und störungsfrei. Dass solche Zwischenfälle passieren können, das weiss jedermann. Im Moment selber hat aber jeder betreffene Gast der Bahn den Eindruck, dass es immer nur ihn betrifft! Dies war sicher auch hier wieder der Fall. Kommt dazu, dass die miesten Bahnhöfe geschlossen wurden, kein Personal mehr vor Handen, Beleuchtung bedürftig, u.a.m. Dass da der Frust wächst bei den Betroffenen ist verständlich … Bevor jedoch wirklich Massnahmen ergriffen werden können für einen Ersatzbetrieb, muss erst mals die Lage genau bekannt sein! Da hat die SBB wahrscheinlich ihr grösstes Problem! Bis die Situation richtig erfasst ist und entschieden werden kann, vergeht eine „Ewigkeit“ gemessen am Empfinden der Kundschaft! Daran muss die Bahn noch arbeiten … das war schon zu meiner Zeit auf der Zugleitung bei der BLS nicht anders! Dieses Vakuum zwischen dem Eintreffen des Ereignisses und den eigentlichen Entscheidungen, wie weiter, ist in gewissen Fällen immer noch zu lange!

    • Sehr geehrter Herr Donzé

      Vielen Dank für Ihr Interesse und für Ihren Kommentar. Darf ich dazu Folgendes ergänzen:

      Ein erfahrener Bahnhofvorstand – oder mehrere – hätten die meisten Probleme beseitigt.

      Die physische Sicherheit gehörte bei meinem letzten Arbeitgeber zu meinem Aufgabengebiet. Ich weiss, wie sich Grossfirmen in aller Regel in solchen Fragen organisieren. Sie verfassen a) eine tabellarische Übersicht etc. über mögliche Vorfälle und b) erstellen für jeden Vorfall Verhaltensregeln. Bei einem Ereignis befolgt man jeweils die entsprechenden Regeln.

      Nur, Unfälle verlaufen immer „anders“, und das Allerwichtigste ist in allen Fällen die physische Präsenz vor Ort. Diese fehlte am Freitag völlig. Ich versichere Ihnen, dass ich kurz davor stand, mich einzumischen und die Führung an mich zu reissen.

      Ich denke, dass ohne personelle Massnahmen – Reserven, ständig präsente Sicherheitsfachleute in den Regionen (z.B. Wallis, Lavaux, Seeland, Luzern, Olten, Zürich, Buchs SG, Bellinzona) keine nachhaltige Verbesserung möglich ist. Eine – wahrscheinlich mit umfangreichen Regelwerken ausgestattete Stabsstelle bei der GD in Bern oder einer der fünf Betriebsleitzentralen – reicht einfach nicht aus.

      Freundliche Grüsse

      Ernst Rota

  2. Ich verweise auf einen Artikel im K-Tipp vom 2. Dezember 2015. Darin wird auf den Seiten 8 und 9 unter dem Titel „Wir wurden einfach im Stich gelassen“ ein ähnlicher Vorfall am 21. November 2015 beschrieben, ebenfalls auf der Gotthard-Route, und mitunter nur 3 Tage nach dem oben erwähnten Vorfall. Auch am 21. November 2015 herrschte gemäss dem Bericht ein unglaubliches Informations-Chaos. Klar ist für mich: wenn bei den SBB etwas Ausserplanmässiges passiert, wird man im Regen stehen gelassen.

  3. Sehr geehrter Herr Bäbler

    Vielen Dank für Ihren Kommentar und für Ihr Interesse an unserer Website. Über folgenden Link gelangt man – aus technischen Gründen leider in zwei Schritten – zu dem von Ihnen erwähnten Artikel im K-Tipp:

    http://fokus-oev-schweiz.ch/k-tipp-2015_12_02/

    Nochmals vielen Dank und beste Wünsche für das neue Jahr

    Freundliche Grüsse

    Ernst Rota

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