BeNe-Züge: Aspekt Behindertenfreundlichkeit

Der neue NEAT-Gliederzug der SBB für die Gotthardachse wird in den Fachzeitschriften SER/ERI/ERI  6/2014 ausführlich vorgestellt. Dabei fällt die relativ geringe Platzzahl dieses 200-Meter-Zuges auf. Ein wesentlicher Teil geht auf das Konto „Behindertenfreundlichkeit“. Der Redaktor des Artikels schreibt von „brutalen Einflüssen des Behindertengleichstellungsgesetzes“. Er weist darauf hin, dass etwa 10% der Sitzplätze diesem Konzept geschuldet sind. Der Autor des genannten Artikels verweist denn auch auf die etwa  10% höheren Sitzplatzkosten. Ich habe mir die Mühe gemacht, diesen Aspekt etwas zu analysieren.

NEAT-Zug Fotomontage WPAbb. 1 Ansicht des neuen NEAT-Zuges der SBB (SER 6/2014)

Behindertenabteile unnötig grosszügig

Beim NEAT-Zug gibt es zwei Rollstuhlabteile, je eines für die 1. und die 2. Klasse. Auch die Behindertentoilette ist doppelt vorhanden und je Behindertenabteil sind zwei Spezialtüren für den niveaugleichen Zutritt vom Bahnsteig zum Anteil vorhanden. Ein Behindertenabteil nimmt inklusive Toilette und separatem Einstieg 5815 mm an Wagenlänge für 2 Rollstuhlplätze in Anspruch. Ohne das Behindertenabteil, aber mit einer normalen Toilette, könnten in diesem Bereich 24 Sitzplätze in der zweiten Klasse untergebracht werden. Weitere 6 Sitzplätze gehen verloren, weil der Durchgang zum Speisewagen in der 2. Klasse breiter gehalten werden muss. Ohne Rollstuhlabteil  könnten also in der 2. Klasse 30 normale Sitzplätze mehr eingebaut werden. Abzüglich der 2 Rollstuhlplätze „verliert“ man also 28 Sitzplätze.

BENE 2. Klasse WP

Abb. 2: Grundriss des Behindertenbereichs in der 2. Klasse (SER 6/2014). Da keine Originalzeichungen erhältlich waren, musste der Grundriss gescannt werden.

In der ersten Klasse sehen die Verhältnisse etwas weniger dramatisch aus. Dort gehen unter Berücksichtigung der zwei Rollstuhlplätze und einer normalen Toilette nur „nur“ 11 Sitzplätze verloren.

BENE 1. Klasse WP

Abb 3: Grundriss des Behindertenbereichs in der 1.Klasse (SER 6/2014

Insgesamt sind dies 39 Sitzplätze, die auf das Konto des Behindertengleichstellungsgesetzes gehen. Anstelle von 450 Sitzplätzen im ganzen Zug verbleiben nur 411 Sitzplätze. Es werden also für insgesamt 4 Rollstuhlplätze nicht weniger als 39 normale Sitzplätze geopfert.  Oder anders ausgedrückt: Ein Rollstuhlplatz beansprucht 10 normale Sitzplätze. So nebenbei liessen sich auch noch zwei Spezialtüren und eine teure Behindertentoilette einsparen. Die Sitzplatzkosten pro Rollstuhlplatz betragen somit das Zehnfache eines normalen Sitzes (ohne Berücksichtigung der höheren Kosten für die Spezialtoilette und die Spezialeingangstüren).

Die ÖBB machen es geschickter

Man kann sich schon fragen, ob hier nicht zugunsten einer sehr kleinen Gruppe unverhältnismässige Kosten generiert werden. Als Kompromiss hätte genügt, beispielsweise nur im 1.-Klasse-Teil eine behindertengerechte Einrichtung mit  4 Rollstuhlplätzen unterzubringen. Es käme weit billiger, allen Rollstuhlfahrern ein 1.-Klasse-Billett für den Preis eines 2.-Klasse-Billetts auszuhändigen oder einfach das 2.-Klasse-Billett anzuerkennen. Die österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) machen es beim Railjet vor (der Railjet entspricht bezüglich Sitzplätze ziemlich genau dem NEAT-Zug): dort befindet sich das einzige Rollstuhlabteil im Erste-Klasse-Bereich gleich neben dem Restaurant und kann auch mit einem 2.-Klasse-Billett benutzt werden (Auskunft der ÖBB vom 19.2.15). Nebenbei:  die ÖBB bieten im Railjet nur drei Rollstuhlplätze an, die nach meinen Beobachtungen nur sehr selten belegt sind.

Verhältnismässigkeit kein Begriff mehr?

Auf diese Zusammenhänge sei deshalb verwiesen, weil die Wirtschaftlichkeit der Bahnen und des ö.V. ganz allgemein zunehmend zum Problem wird. Wenn in Zukunft auch die Fernbusse mit einem Rollstuhlabteil ausgestattet werden müssten, sinkt deren Wirtschaftlichkeit prozentual noch weit stärker als bei den Bahnen. Kein Mensch verweigert den Rollstuhlfahrern eine besondere Rücksicht. Trotzdem darf das nicht ein Freipass für unverhältnismässige Vorgaben sein, zumal sich die Zahl der Rollstuhlfahrer in den Zügen in einer überschaubaren Grössenordnung hält. Der Umstand, dass im NEAT-Zug nur gerade 4 Behindertensitzplätze vorgesehen sind (d.h. also etwa 1 % aller Sitzplätze), lässt vermuten, dass der Anteil der Rollstuhlfahrer offenbar um ein Prozent herum liegt. Nach meinen persönlichen Beobachtungen sind es deutlich weniger.

Als weiteres warnendes Beispiel seien die überzogenen Vorstellungen der Behindertenverbände um das Behindertenabteil beim Doppelstock-Fernverkehrszug der SBB genannt, die zu Mehrkosten in zweistelliger Millionenhöhe und zu mehrmonatigen Verzögerungen bei der Auslieferung der Züge führen. Oder die Diskussionen um den behindertengerechten Ausbau von Stationen mit geringem Passagieraufkommen, wo nun an deren Schliessung gedacht wird, um den kostenintensiven Auflagen des Behindertengesetzes ausweichen zu können. Dass dann die wesentlich grössere Zahl von Nichtbehinderten Umwege in Kauf nehmen muss, ist offenbar nicht von Belang.

Es geht letztlich um die Verhältnismässigkeit, ein Wort, das immer mehr aus dem politischen Vokabular verschwindet.

3 Gedanken zu „BeNe-Züge: Aspekt Behindertenfreundlichkeit

  1. Vielen Dank an den Verfasser für den Beitrag und die offenen Ausführungen. Gerne nehme ich in zwei getrennten Kommentaren zum Beitrag Stellung – nämlich a) zur Umsetzung des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes und b) zur Beschaffung der neuen Züge.

    Ich beginne hier mit ein paar Bemerkungen zur Umsetzung der Behinderten-Gleichstellungsgesetzes im öffentlichen Verkehr. Vorab möchte ich betonen, dass die mit dem Gesetz angestrebten Ziele, behinderten Menschen eine möglichst uneingeschränkte Mobilität zu ermöglichen, keinesfalls in Frage gestellt werden.

    Aber alles ist eine Frage von Augenmass und Vernunft. Da gibt es beispielsweise Haltepunkte von Bahnen, an denen die Perrons mit Streifen für Sehbehinderte belegt sind, wobei Behinderte diese Perrons gar nicht erreichen können, oder an denen keine oder praktisch keine Züge mehr anhalten. Oft entsteht der Eindruck, dass bei der Umsetzung des Gesetzes wirtschaftliche Interessen der Bauindustrie oder der Fahrzeugindustrie im Vordergrund stehen oder einfach purer Opportunismus der Zuständigen bei den Bahnen – der Aufwand trägt ja die Allgemeinheit – vorliegt.

    Das ist eine fatale Entwicklung. Der Unmut bei vielen Mitbürgern über diese Unverhältnismässigkeit wächst und kann das Verständnis für die berechtigten Anliegen der Behinderten inskünftig beeinträchtigen. Ich habe solche Diskussionen erlebt und war über die Härte der Argumentationen erstaunt.

    Was wäre zu tun? Aus der Fülle der Massnahmen zwei Vorschläge.

    1. Konzentration des behindertengerechten Ausbaus der Haltepunkte auf weniger Stationen, wobei diese dafür tatsächlich auf die Bedürfnisse der Behinderten auszurichten wären (gedeckte Unterstände, gute Beleuchtung, Telefonanschluss, Taxidienst oder Ruftaxi für Behinderte, mit Barrieren gesicherte niveaugleiche Übergänge). Solche erfolgreiche Beispiele lassen sich in der Praxis bereits finden.

    2. Selektiver Anpassungen des Rollmaterials an die Bedürfnisse der Behinderten, verbunden mit der Kennzeichnung der für die Behinderten geeigneten Züge im Fahrplan (Züge mit Kinderspielwagen werden ja auch speziell gekennzeichnet).

  2. Nachstehend nehme ich zum zweiten Aspekte des Artikels von Max Ehrbar Stellung, nämlich zur Beschaffung der BeNe-Züge als solche. Aus folgenden Gründen stelle ich die Beschaffung der Züge bzw. eine Eigenentwicklung der SBB in höchstem Masse in Frage.

    1. Vorab vermisse ich ein klares Konzept der SBB für den internationalen Personenverkehr generell und den Einsatz der neuen Züge im speziellen.

    2. Ich verweise auf die Ausführungen in meinem Beitrag in diesem Blog „Internationaler öffentlicher Personenverkehr IPV – Postulate und Potentiale“. Trotz heftiger Kritik an meinen Ausführungen habe ich auch in Anbetracht des Trends und der laufenden Entwicklungen keine Argumente gefunden, welche diese Thesen in Frage stellen.

    3. Die SBB sollte nur auf jenen Destinationen selbst Züge führen, auf denen der überwiegende Teil der Strecke in der Schweiz liegt. Das beschränkt den Einsatz der Züge auf die Destinationen aus der Schweiz von Basel, Genf und Zürich nach Mailand.

    4. Hier setzen die SBB nach dem Debakel mit der Cisalpino AG und den ETR 470 mit einigem Erfolg die ETR 610 von Bombardier ein. Diese Züge haben sich in mehreren europäischen Ländern und in der Schweiz bewährt – Polen hat unlängst eine grössere Flotte in Betrieb genommen.

    5. Eine Eigenentwicklung, wie dies bei dem bei Stadler bestellten Zug der Fall ist, ist immer mit einem Entwicklungs- und Beschaffungsrisiko verbunden. Zudem erfordert jeder Zugstyp den Aufbau von Know How und Sachmitteln für den Betrieb und den Unterhalt. Dies kann sich besonders beim Einsatz im grenzüberschreitenden Verkehr nach entfernten Destinationen nachteilig auswirken.

    6. Ich halte es für denkbar, dass mit dem Beschaffungsentscheid auch Motive der Standortförderung verbunden sind. Welche Luftfahrtgesellschaft lässt heute noch eine vergleichsweise kleine Flotte nach ihren Bedürfnissen anfertigen? Eine solche Praxis ist wohl nur bei den mit massiven Mitteln subventionierten Staatsbahnen möglich.

    7. Darüber hinaus hat Stadler keine Erfahrungen mit wirklichen HG-Zügen. Wer je mit einem KISS mit 200 km/h unterwegs war, weiss, was ich meine. Meines Erachtens steht das Risiko im Raum, dass Stadler seine Möglichkeiten mit den HG-Zügen überdehnt hat. Ein doch eher mittelständisches Unternehmen wird langfristig Mühe haben, an vielen höchst unterschiedlichen Standorten eine derart breite Palette an Fahrzeugen (GTW, KISS, FLIRT, HG-Züge, Trolleybusse etc.) zu bauen und weiter zu entwickeln. Ob beim Besteller jemand daran gedacht hat?

  3. Noch eine dritte Bemerkung: Die SBB hat der BLS ja ein gutes Dutzend ex-RM GTW abgekauft. Die WC in diesen Zügen sind so eng, dass beleibte Personen Mühe haben, ihre Geschäfte dort zu verrichten – ganz abgesehen von Behinderten. Weshalb wurde das Behinderten Gleichstellungs-Gesetz hier nicht eingehalten? Umso mehr, als diese Züge sogar als RE zwischen Biel und La-Chaux-de-Fonds verkehren.

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