Multimodalität – Vision und Realität

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Im Mittelpunkt der Herbsttagung vom 17. Oktober 2019 von Avenir Mobilité im Farelhaus in Biel stand die Frage nach den Visionen und der Realität von multimodalen Lösungen im Personenverkehr. Im Rahmen einer weiteren interessanten und aktuellen Veranstaltung von Avenir Mobilité widmeten sich Fachleute nach zwei Inputreferaten und in zwei getrennten Panels mit dieser Fragestellung. Es zeigte sich, dass nicht nur in Frankreich, sondern auch in Österreich multimodale Mobilitätslösungen in Städten Realität geworden sind. Die Herbsttagung erfolgte in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Strassen- und Verkehrswesen GSV.

Inputreferat I von Albert Waldhör, CEO von Linz Linien

Unter der Bezeichnung „tim“ (täglich.intelligent.mobil.) wird in Linz derzeit ein multimodales Mobilitätskonzept umgesetzt. Dabei erfolgt eine enge Kooperation mit Graz und Wien. Man strebt an, das vom Bundesministerium BMVIT nachhaltig unterstützte Konzept nach der Einführung österreichweit auch in Innsbruck, Klagenfurt und Salzburg zu realisieren. Gestartet wurde in Linz mit fünf Knoten. Implementiert werden sollen bis 2021 14 weitere Knoten.

Kunden stehen an den Knoten in der Regel verschiedene Verkehrsmittel zur Verfügung, nämlich Tram, Bus, Velo, Sammeltaxis im Nachtbetrieb sowie Autos mit Elektroantrieb und Verbrennungsmotoren. Alle Verkehrsmittel sind einheitlich gekennzeichnet und können mit der Basiskarte des öffentlichen Verkehrs benutzt werden. Kunden werden in einem grosszügig gestalteten Informationszentrum beraten.

Knoten mit dem Standardangebot liegen idealerweise in Stadtteilen, in denen in einem Umkreis von 400 Metern 4‘000 Menschen wohnen oder sich 4‘000 Arbeitsplätze befinden. Die ersten Erfahrungen sind vielversprechend, obschon das Angebot zurzeit hauptsächlich vom Berufsverkehr genutzt wird. Für ausserhalb des Ballungsraums liegende Ortschaften werden angepasste Lösungen entwickelt. Das neue Konzept wird zurzeit subventioniert und soll 2021 die Gewinnschwelle erreichen.

Inputreferat II von Laurent Kocher, Executive Vice Président von Kéolis SA

Laurent Kocher stellt das voll integrierte und multimodale Verkehrskonzept der Stadt Lyon vor. Kéolis, zu 70 Prozent im Eigentum der SNCF, betreibt den öffentlichen Verkehr in Lyon seit 1985, aus dem das multimodale Mobilitätskonzept herausgewachsen ist. Der Kostendeckungsgrad ist zwischen 2005 und 2018 von 44,3 Prozent auf 63,7 Prozent gestiegen. Der Umsatz hat in dieser Periode von EUR 266 Mio. auf EUR 438 Mio. zugenommen. Kéolis wird von der Stadt Lyon erfolgsabhängig honoriert, wobei Kéolis im Gegenzug der Stadt einen Mindestumsatz garantiert.

Mit diesen Werten liegt Lyon weit über dem Durchschnitt von Städten in Frankreich und in der EU. In der Vergleichsperiode wurden die angebotenen Leistungskilometer um 14 Prozent erhöht. Zwischen 1995 und 2015 hat sich der Modalsplit zwischen dem motorisierten Individualverkehr und dem öffentlichen Verkehr erheblich zugunsten des letzteren entwickelt. Bis 2030 soll der Anteil des MIV mit 35 Prozent gleich hoch sein wie derjenige der Fussgänger (!), 22 Prozent sollen von Metro, Tram und Bus erbracht und 8 Prozent mit Velos zurückgelegt werden.

Interessant ist die Entwicklung der öffentlichen Verkehrsmittel in der genannten Periode, nämlich Metro plus zehn Prozent, Tram plus 31 Prozent und Busse minus 7 Prozent.

Kunden können ihre Transportbedürfnisse verkehrsmittelübergreifend befriedigen. Bezahlt wird über eine einheitliche Karte oder über das Smartphone. Kéolis stellt ihren Kunden in Lyon an 25 Standorten kostenlos über 7‘500 bewachte Parkplätze mit direktem Anschluss an die öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung.

Dialoganlass «Multimodalität – Vision und Realität» Photo by Béatrice Devènes

Panel I

Dieses sowie das folgende Panel wurde von Prof. Dr. Mathias Finger von der EPFL wie gewohnt souverän moderiert.

Nicole Mathys, Sektionschefin im Bundesamt für Raumenwicklung, eröffnet das erste Panel mit einem Überblick über den Autoverkehr in der Schweiz. Fünf Prozent der Autohalter besitzen neben ihrem eigenen Wagen ein Generalabonnement, und 22 Prozent einen Wagen und ein Halbtaxabonnement. Neun Prozent der Autofahrten erfolgen über eine Strecke von weniger als einem Kilometer, 32 Prozent unter 3 Kilometer und 46 Prozent unter 5 Kilometer. Diese Zahlen belegen die Grenzen des Einsatzes von multimodalen Mobilitätsangeboten. Dem Bund stehen nur wenige Hebel für eine Beeinflussung des Verkehrsverhaltens zur Verfügung, am ehesten über den Sachplan Verkehr und Handlungsempfehlungen für Regionen.

Stefan Mayr, Geschäftsführer Arge ÖVV, Wien, erwähnt, dass in Österreich im Prinzip jedes Bundesland einen mit einem Bundesgesetz österreichweit geregelten Verkehrsverbund betreibt. Eine Ausnahme bildet der Verkehrsverbund von Wien mit der Einbindung der stadtnahen Regionen von Nieder- und Oberösterreich sowie des Burgenlandes. Man strebt eine Ausweitung der Verkehrsverbünde in noch stärker bedarfsorientierte Mobilitätsverbünde an. Zudem ist eine landesweite Informationsplattform im Entstehen.

Dino Graf, Leiter Group Communication bei Amag, führt aus, dass viele Schweizer je nach dem Zweck der Reise, unterschiedliche Verkehrsmittel benutzen. Zweifellos kann man die verschiedenen Angebote noch besser kombinieren, als dies heute der Fall ist.

Ueli Stückelberger, Direktor des Verbandes öffentlicher Verkehr, betont, dass die Schweiz mit Mobility eine Pionierrolle für die verkehrsmittelübergreifende Mobilität eingenommen hatte. Das Interesse an multimodalen Mobilitätslösungen ist gross und es ist viel im Aufbruch. Im Übrigen verfügt die Schweiz über einen flächendeckenden und gut ausgebauten öffentlichen Verkehr.

Laurent Kocher argumentiert, dass multimodale Mobilitätslösungen vor allem in Ballungsräumen sinnvoll sind. in dünn besiedelten Regionen gibt es kaum öffentlichen Verkehr, da lässt sich auch nichts kombinieren.

Panel II

Martina Müggler, Mitglied der Geschäftsleitung von Postauto Schweiz AG, betont, dass Multimodalität bei Postauto schon seit einigen Jahren ein Thema ist. Mit Publibike und einer gemeinsamen App mit BVB und BLT hat Postauto national eine Pionierrolle ausgeübt. Die Weiterentwicklung der App wurde wegen der angekündigten Entwicklung einer entsprechenden App durch die SBB abgebrochen. Neben einer leistungsfähigen App brauche es aber auch Anreizsysteme und adäquate Angebote.

Gery Balmer, Sektionschef beim Bundesamt für Verkehr, bestätigt das grosse Potential von multimodalen Mobilitätslösungen. Der Bedarf ist ausgewiesen. Er plädiert für attraktive, einfache und effiziente Lösungen. Bestehende Angebote müssen noch besser vernetzt werden, auch sollen die Vertriebssysteme für Dritte geöffnet und der Zugang zu Daten erleichtert werden. Martina Müggler hat Bedenken, dass der Eintritt von Dritten bewährte Abläufe beeinträchtigen könnte, besonders wenn die Rückkoppelung zu den Transportunternehmen nicht funktioniert.

Gemäss Franz Schwammenhöfer, Leiter Gesamtverkehr beim österreichischen Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie, verlangen multimodale Mobilitätslösungen nach einer verstärkten Kooperation unter den Anbietern und können Synergien auslösen. Mobilität muss selbst in kleineren Städten als hochwertiger Gestaltungsraum genutzt werden, Innovationen fördern und bedarfsgerechtere Angebote hervorbringen.

Laura Schmid, VCS Bern, spricht sich für ein Masshalten beim Verkehr aus, vor allem beim privaten Autoverkehr. Sie befürchtet, dass die neuen Angebote zu Mehrverkehr führen. So hat Uber in zahlreichen Städten einen Anstieg der Autofahrten bewirkt. Für multimodale Mobilitätslösungen bedarf es eines klaren Auftrag des Staates. Google verfügt schon heute über eine leistungsfähige und stark genutzte Applikation für Routenwahl und Reiseplanung.

Eigentumsrechte und Nutzung der Daten stehen im Mittelpunkt der Plenumsdiskussion. Vor dem Hintergrund, dass Google bereits heute die meisten Daten schon besitzt, plädiert Gery Balmer für eine konsequente Öffnung der Datenbanken. Franz Schwammenhöfer argumentiert, dass die Daten primär dem Staat gehören. Gery Balmer entgegnet, dass Daten zur öffentlichen Infrastruktur gehören, und verspricht sich von multimodalen Mobilitätslösungen unter anderem eine höhere Auslastung der Transportmittel.

Der Stadtpräsident von Biel, Erich Fehr, überbrachte den Anwesenden zum Abschluss das Grusswort der Stadtregierung. Er führte aus, dass auch Biel die Wichtigkeit der multimodalen Mobilität erkannt habe und verschiedene Projekte in die Wege geleitet hat.

Anschlussbemerkungen des Verfassers

Nur wenig angesprochen wurde in der Diskussion die Thematik, was mit den Daten geschehen soll, insbesondere, wer welche Angebote und Services damit bereitstellen darf. Welche Risiken entstehen durch den Markteintritt von mächtigen Anbietern? Welche Freiräume bleiben dem Staat für eine proaktive Gestaltung der Verkehrspolitik? Darin liegen unseres Erachtens die zentralen Fragen der im Raum stehenden Problematik. Sollen Dienste wie booking.com in der Hotellerie, künftig auch im Verkehrswesen eine dominante Position einnehmen?

Ausserdem verfügt die Schweiz bereits heute – basierend auf den traditionellen öffentlichen Verkehrsmitteln und der Plattform des Direkten Verkehrs – über ein verkehrsmittelübergreifendes System. Mit der Einbindung von Mobility und Publibike einerseits und der von der SBB angekündigten Entwicklung einer IT-Plattform könnte unseres Erachtens rasch und mit verhältnismässig geringem Aufwand ein multimodales Mobilitätskonzept realisiert werden.

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