Eisenbahnwesen in Polen – Eindrücke und Einschätzung

Vorbemerkungen

Meine Frau und ich haben im Sommer 2016 eine geführte Radtour entlang der Ostseeküste unternommen. Auf der Fahrt von Stettin nach Danzig (man entschuldige, dass ich infolge der schwierigen Schreibweise der Namen der polnischen Städte weitgehend deutsche Ortsnamen verwende) wurden en passant auch Eisenbahnanlagen besichtigt. Zudem unternahmen wir ein paar Fahrten mit der Bahn, und die Rückreise nach Zürich erfolgte von Danzig aus mit Zwischenhalten in Posen und Berlin ebenfalls per Bahn. Die zahlreichen Eindrücke werden abgerundet mit Erfahrungen aus einer Städtereise in Polen im Jahr 2012 (Warschau – Krakau – Auschwitz – Breslau).

Die folgenden Ausführungen sind subjektiver Art und erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sie erfolgen jedoch nach bestem Wissen und Gewissen.

Zusammenfassung

Positive und negative Eindrücke wechselten sich in rascher Folge ab. In seiner Gesamtheit hat die Eisenbahn in Polen das in Mitteleuropa übliche Niveau (noch?) nicht erreicht. Bedeutende Fortschritte sind erkennbar. Eindrücklich sind die Bahnhofsgebäude in den besuchten grossen Städten. Diese wurden nach den Zerstörungen im zweiten Weltkrieg in ihrer ursprünglichen Form wieder aufgebaut. Dabei wurden keine Mittel gescheut.

Bemerkenswert entlang der Ostsee ist der stark auf die saisonalen Reisebedürfnisse ausgerichtete Fahrplan und die im Sommer weiterhin geführten Nachtzüge. Auffallend ist zudem die enorme Abstufung der Fahrpreise nach der Zugskategorie. Auch verkehren in Polen für den hochwertigen Verkehr die ETR 610-Züge von Alstom offensichtlich zur Zufriedenheit der Betreiberin und der Fahrgäste. Polen verfügt bekanntlich mit der Firma PESA über einen kompetitiven Anbieter von Rollmaterial.

7 PESA

Bahnhöfe

Besichtigt wurde knapp ein Dutzend Bahnhöfe, nämlich Stettin, Swinemünde, Cammin, Kolberg, Ustka, Leba, Lebork, Hela, Danzig, Malbork und Posen. Die eingangs erwähnten gewaltigen Unterschiede zeigen sich auch hier. Leider habe ich nur wenig fotografiert.

Abgefallen sind Cammin und Ustka. Das Bahnhofsgebäude und der Busbahnhof von Cammin sind zwar (noch?) in Betrieb, aber buchstäblich am Zerfallen. Auch Ustka präsentiert sich schlecht. Zwei Perrons, einer ohne Dach, und kein Bahnhofgebäude mehr vorhanden. Die Fussgänger betreten die Gleisanlagen nach Belieben.

Auf der anderen Seite haben die Bahnhöfe und die Bahnanlagen von Swinemünde, Kolberg, Lebork und Malbork durchaus den bei uns üblichen Stand.

Beeindruckend hingegen sind die neu gebauten Bahnhöfe von Hela und Danzig.

5 Hela

Danzig wurde nach der totalen Zerstörung im zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut – eigentlich kaum zu glauben.

1 Danzig HB

Geradezu überragend sind die neuen Bahnhöfe von Stettin und Posen. Letzterer zählt aus meiner Sicht zu den eindrücklichsten Bahnhofsgebäuden in Europa.

2 Poznan 1

2 Poznan 2

2 Poznan 3

Strecken

Einige der besichtigten Strecken – und zwar sowohl Haupt- und Nebenstrecken – wurden in den letzten Jahren vollständig und aufwändig erneuert. Beeindruckt haben mich die Erneuerung einer Schmalspurbahn bei Rewal sowie die normalspurigen Strecken von Hela nach Reda und die Magistrale von Danzig nach Tczew. Alles neu und sehr solide gebaut – Unterbau, Geleise, Oberleitung, Sicherungsanlagen und Zwischenstationen.

4 Danzig

 

Daneben gibt es aber auf der wichtigen Strecke von Danzig nach Posen Abschnitte, die eher einer Wiese als einem Bahntrasse gleichen und eine erhebliche Reduktion der Fahrgeschwindigkeit erzwingen.

3 Strecke

Angebote

Im Bereich der grossen Städte besteht ein relativ dichter Regionalverkehr. In der Fläche ist das Angebot dünner – knapp ein Dutzend Züge pro Tag beispielsweise ab Kolberg oder Ustka.

Auffallend ist die starke Ausrichtung des Angebots auf die Saison. So wird die Strecke von Hela nach Lebork nur in der Sommersaison befahren. In den restlichen acht Monaten fahren nur Busse. Von Danzig nach Hela besteht in der Saison praktisch Halbstundentakt, der in der Nebensaison stark ausgedünnt ist (Ich bitte um Verständnis für die schlechte Bildqualität der beiden Fahrpläne von Hela. Besten Dank.)

3 Angebot Sommer3 Angebot Winter

Bemerkenswert ist, dass in der Sommersaison von den Ferienorten an der Ostseeküste zahlreiche Nachtzüge zu den Grossstädten im Landesinnern verkehren. In Hela beispielsweise habe ich fünf betriebsbereite Kompositionen von Nachtzügen gezählt.

7 Nachzuege

Fahrpreise

Die Fahrpreise in Zloty sind aus unserer Sicht sehr günstig. Die einfache Fahrt von Hela nach Lebork über 32 km kostete Zloty 5,50. Ermässigung für Retourfahrten gab es nicht. (Ich schätze die lokale Kaufkraft eines Zloty auf etwa CHF -.80). Sehr teuer hingegen war die Fahrt mit dem ETR 610 von Danzig nach Malbork. Der volle Preis für die Fahrt über 50 km – Reisezeit 29 Minuten – beträgt in der zweiten Klasse 50 Zloty (vergleichbar etwa mit CHF 40.-). Die knapp eine Stunde dauernde Rückfahrt mit dem Regionalzug kostete noch rund 11 Zloty. Die Tageskarte für den Raum Danzig hätte Zloty 16.- gekostet.

Rollmaterial

Im Allgemeinen weist das benutzte Rollmaterial einen guten bis sehr guten Standard auf. Von Leba nach Lebork fuhr ich mit einem neuen und klimatisierten zweiteiligen Dieseltriebzug.

6 Zug 1

6 Zug 2

6 Zug 3

6 Zug 4

Von Danzig nach Tczew fuhren wir mit einem voll besetzten und sehr gepflegten ETR 610. Die Fahrt mit hoher Geschwindigkeit verlief sehr ruhig.

5 ETR 610

Die Rückfahrt von Malbork nach Danzig erfolgte mit einem bis auf den letzten Platz besetzten erneuerten dreiteiligen Elektrotriebzug.

Die fast vier Stunden dauernde Fahrt von Danzig nach Posen erfolgte in einem älteren Seitengangwagen ohne Klimaanlage. Der Zug erreichte Posen mit zwanzig Minuten Verspätung – die einzige Verspätung auf unseren Reisen in Polen. Von Posen nach Berlin fuhren wir mit einem klimatisierten Seitengangwagen. Beide Züge verfügten weder über einen Speisewagen noch einen Verpflegungsdienst. Hingegen wurden die Fahrgäste in der 1. Klasse von Posen nach Berlin mit einem Getränk und einem kleinen Snack begrüsst.

7 Zug 1

7 Zug 2

Servicequalität

Die Servicequalität ist aus meiner Sicht ungenügend. Vor den Billettschaltern hat es stets lange Warteschlangen. Das Schalterpersonal spricht kaum Fremdsprachen und ist – aus unserer Optik – wenig dienstfertig und gelegentlich unfreundlich. In grösseren Bahnhöfen stehen Billettautomaten zu Verfügung. Es hat zwar in Fremdsprachen übersetzte Menues – die Übersetzung ist oft ungenau und lückenhaft.

8 Schalter

Alle benutzten Züge waren von einem Zugbegleiter oder -Begleiterin begleitet. Auch sie waren wenig freundlich. Das galt übrigens auch für den Zugbegleiter der DB auf der Teilstrecke zwischen Frankfurt an der Oder und Berlin – er behandelte einen Passagier in der 1. Klasse ausgesprochen grob.

Abschliessende Bemerkungen

Wie dem Internet zu entnehmen war, hat die neue Regierung jedoch die weit fortgeschrittene Planung der Hochgeschwindigkeitstrecken von Warschau aus Richtung Westen eingestellt und möchte die dafür vorgesehenen Mittel in das bestehende Netz investieren.

Nun – wir haben die Tage in Polen sehr geschätzt. Man fühlt sich sicher. Die besichtigten Städte beeindrucken durch die aufwändig renovierte oder wieder aufgebaute alte Bausubstanz und die vielen modernen Gebäude. Auch die Bahn scheint auf den wichtigen Strecken im Aufwind zu sein. Polen ist ein sehr interessantes Land. Ein Besuch lohnt sich, auch per Eisenbahn.

10 Polen

 

2 Gedanken zu „Eisenbahnwesen in Polen – Eindrücke und Einschätzung

  1. Danke, lieber Ernst, für diesen spannenden Bericht aus einem Land, welches ich leider (noch) nicht kenne, mit Ausnahmen von Swinemünde auf Usedom, wohin die Bäderbahn seit inigen jahren wieder fährt. Unmittelbar nach der Wende sah die Bahnzukunft in Osteuropa sehr düster aus. Hinter dem Eisernen Vorhang wurde jahrelang deutlich auf Verschleiss gefahren, für tiefgreifende Erneuerungen fehlten die Mittel. Das Westauto feierte ab 1990 seinen triumphalen Einzug. Inzwischen hat sich bahnseitig offensichtlich viel getan, wenn auch auf Kosten von Infrastrukturabbau und Streckenstilllegungen. Die EU sollte generell mehr in den Schienenverkehr inverstieren, nicht nur im Osten.

  2. Ich kann Ernst Rotas Bericht über Polen weitestgehend bestätigen. Die Unterschiede im Zustand der Anlagen sind enorm, manches ist am Zerfallen, anderes jedoch vollkommen neu. Es scheint jedoch so zu sein, dass ganze Strecken oder Bereiche systematisch erneuert werden, ausgehend von den grossen Zentren oder die Hauptstrecken zwischen diesen.
    Ebenso verhält es sich bei den Fahrzeugen: neben einigen älteren Zügen sind zu einem grossen Teil fast neue, sehr gepflegte Fahrzeuge im Einsatz. Alles ist vergleichsweise sauber, erst bei der Rückkehr in die Schweiz fiel mir beim Betreten eines schmuddeligen IC-Dostos auf, wie gross der Unterschied ist…

    Auch ich habe festgestellt, dass das Bahnpersonal wie viele andere Leute in Polen nicht immer Fremdsprachen beherrscht; die jüngere Generation spricht nicht selten Englisch, bei älteren Personen habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie meist eher Deutsch verstehen und hin und wieder etwas sprechen. Ein älterer Mann sprach gar italienisch mit mir, alle anderen polnisch – auch wenn wir gar nichts verstanden – und mit Händen und Füssen. Im allgemeinen waren alle Leute sehr zuvorkommend und halfen uns wo sie konnten, auch wenn die Verständigung schwierig war. Wir haben alles bekommen wonach wir fragten, manchmal sogar geschenkt, und haben überall sehr gut gegessen, für unsere Verhältnisse ausgesprochen günstig. Ich würde die Kaufkraft eines Zloty in Polen etwa 1:1 zum Schweizer Franken in der Schweiz einschätzen.

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