Der Alpenschutzartikel – der Weisheit letzter Schluss?

1.  Ausgangslage

Die Schweiz ist eine mit dem Ausland sehr eng verbundene Volkswirtschaft. Die wirtschaftlichen Verflechtungen vor allem mit der EU sind enorm. Zwischen der Schweiz und dem Ausland besteht ein immenser Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Dabei sind wir auf leistungsfähige und frei zugängliche Verkehrsachsen angewiesen.

Aufgrund ihrer geographischen Lage ist die Schweiz für den innereuropäischen Güterverkehr ein wichtiges Transitland. Die kürzesten Verbindungen zwischen Süddeutschland und dem Elsass mit der Lombardei führen durch die Schweiz und über unsere Alpenpässe.

Um den Transit auf der Strasse zu beschränken, hat die Schweiz mit der EU das sogenannte Landverkehrsabkommen abgeschlossen. 1994 haben die Schweizer Stimmbürger mit knapper Mehrheit dem Alpenschutzartikel in der Bundesverfassung zugestimmt, der die Anzahl der alpenquerenden Lastwagen auf 650‘000 Fahrten beschränkt. Zugleich wurde eine den Güterverkehr auf der Strasse belastende Leistungsabhängige Schwerverkehrs Abgabe LSV eingeführt. Trotzdem wurde das verfassungsmässig vorgeschriebene Ziel nie erreicht. 2014 fuhren 1,03 Mio. Lastwagen über die Schweizer Pässe, davon knapp 75 Prozent durch den Gotthard.

Zentral in der Diskussion über die zweite Röhre – den Vollausbau der Autobahn A2 durch den Gotthard – ist der Alpenschutzartikel. In diesem Beitrag möchte sich der Verfasser kritisch mit dieser Verfassungsnorm auseinandersetzen.

2.  Einige Argumente von Befürwortern des Alpenschutzartikels

Die Argumente der Befürworter des Alpenschutzartikels lassen sich wie folgt gruppieren:

  1. Antieuropäische Reflexe und Abschottungstendenz
  2. Schutz der Umwelt
  3. Erhaltung des Alpenraums in seiner Schönheit und Unberührtheit
  4. Verlagerung des Güterverkehrs auf die umweltschonende Eisenbahn
  5. Strukturerhaltung der Eisenbahnen und Lohnpolitik

3.  Diskussion der Argumente

In diesem Abschnitt werden die Argumente der Befürworter kurz diskutiert:

a.  Antieuropäische Reflexe und Abschottungstendenz

Gemäss dem Bundesamt für Statistik wurden für den Gütertransitverkehr durch die Schweiz 2014 total 14,6 Milliarden Tonnenkilometer geleistet, davon 12,3 Mia. auf der Schiene und 2,050 Mia. auf der Strasse.

Gemäss der Aussenhandelsstatistik 2014 wurden 52,0 Mio. Tonnen Güter in die Schweiz importiert und 18,2 Mio. Tonnen Güter aus der Schweiz exportiert. 60 Prozent der Importe und 75 Prozent der Exporte erfolgten auf der Strasse. Bei einer geschätzten mittleren Distanz der Einfuhren auf der Strasse von 1‘200 km und der Ausfuhren von 800 km beanspruchten der Transport der Importe und der Exporte auf den europäischen Strassen rund 47,6 Milliarden Tonnenkilometer.

Bemerkenswert ist, dass auf der Grundlage dieser Überlegungen für den Import und den Export in und aus der Schweiz 23 mal mehr Tonnenkilometer auf europäischen Strassen geleistet werden als der Transitgüterverkehr auf der Strasse durch die Schweiz beansprucht. Und dies notabene nicht nur über die Alpenpässe, sondern beispielsweise auch in der Ost/Westrichtung. Das Argument „Transithölle Schweiz“ der Gegner der 2. Röhre trifft so nicht zu.Transithölle Schweiz

b.  Schutz der Umwelt

Bekanntlich steigt der Energiebedarf auf Steigungen gegenüber der Ebene sehr stark an. Unser PW benötigt bei zehn Prozent Steigung fast viermal mehr Treibstoff als auf ebenen Strassen. Auf der Fahrt von Basel nach Chiasso betragen die kumulierten Steigleistungen eines Lastwagens rund 1‘700 Höhenmeter. Der Höhenunterschied zwischen Erstfeld und Göschenen beträgt 672 m – ergo legt ein Lastwagen nur 40 Prozent der Aufstiegsleistung auf der Gotthard Nordrampe zurück. In der Gegenrichtung klettert ein Lastwagen von Chiasso nach Basel insgesamt 1‘725 m hinauf, wovon 843 m oder 49 Prozent zwischen Biasca und Airolo auf der Gotthard Südrampe.

Die Belastung der Umwelt ist demnach in den Ballungszentren Basel, Luzern und im Tessin bedeutend höher als am Gotthard – besonders, da in diesen Regionen die Staugefahr infolge des hohen Verkehrsaufkommens viel höher ist als am Gotthard..

c.  Erhaltung des Alpenraums in seiner Schönheit und Unberührtheit

Die Alpen geniessen beim Gros der Schweizer Bevölkerung ein oft mystisch überhöhtes Ansehen. Dies ist mitunter ein Ausdruck der Alleinstellungshaltung vieler Schweizer. Bemerkenswerterweise wird diese Auffassung nur gegenüber dem Güterverkehr vertreten. Die vielen Staustunden an Spitzentagen am Gotthard durch Personenwagen werden vernachlässigt. Wenn sich jeweils tausende von Personenwagen im Schneckentempo durch die Leventina oder das Reusstal bei niedrigen Touren hochquälen, ist der Ausstoss von Kohlenmonoxid durch die unvollständige Verbrennung des Treibstoffes beträchtlich.

Und wenn die Bevölkerung aus dem Mittelland in den Alpen Skifahren will, ist es ihr so ziemlich egal, ob dies auf natürlichem oder Kunstschnee geschieht. Und man nimmt auch dort den Personenwagen, wo die öffentlichen Verkehrsmittel eine gute Alternative bieten.

d.  Schutz der Umwelt durch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene

Die Bahnen und ihre Lobby werden nicht müde, die ökologische Überlegenheit des Schienengüterverkehrs zu betonen. Koste, was er wolle. Fraglich ist, ob die Befürworter von Verladeterminals in Erstfeld und Biasca dazu eine umfassende Ökobilanz erstellt haben. Eine solche würde die Behauptung der ökologischen Überlegenheit des Verladens kaum bestätigen.

Und ich frage mich, weshalb für lärmintensive Güterzüge kein Nachtfahrverbot gilt. Wer beispielsweise wie ich am Südrand von Bellinzona übernachtet hat, weiss, wovon ich spreche. Und wenn eben die Bahnindustrie aus prozessualen Gründen zwischen Bellinzona und Giubiasco ein drittes Gleis legen will, so ist das schlicht und einfach barbarisch. Die ursprünglich geplante Verlängerung der NEAT entlang der Autobahn zwischen Biasca und Giubiasco ist überfällig – genauso, wie der Bau einer ausschliesslich für den Güterverkehr bestimmten Bahnlinie zwischen Basel und Flüelen.

e.  Strukturerhaltung der Eisenbahnen und Lohnpolitik

Der Anteil der Eisenbahnen am alpenquerenden Güterverkehr ist in der Schweiz im Vergleich zu Österreich und zu Frankreich viel höher. Dies ist aber nicht Ausdruck der Leistungskraft der Bahnen, sondern Folge der Restriktionen für den Strassengüterverkehr in der Schweiz. Mit anderen Worten verfügen die Bahnen über massiv geschützte Märkte. Dies gilt nach Aussagen eines hohen Kadermitarbeiters von SBB Cargo AG auch für den serbelnden nationalen Einzelwagenladungsverkehr, der nur dank dem Nachtfahrverbot für Lastwagen und die LSVA (noch) betrieben werden kann.

Die geschützten Märkte für die Bahnen führen dazu, dass nennenswerte Innovationen ausbleiben und an unwirtschaftlichen Prozessen festgehalten wird. Dies konkretisiert sich unter anderem dadurch, dass keine überlangen Güterzüge geführt werden oder dass unzählige Güterzüge wegen der Dominanz des Personenverkehrs sowohl am Gotthard als auch am Lötschberg weiterhin die Bergstrecken benutzen. Das verlängert die Fahrzeit der Güterzüge, verunmöglicht das Führen von langen Zügen, bewirkt einen massiven Verschleiss der Anlagen und erhöht die Immissionen für die Menschen entlang der Bergstrecken.

Auch die teilweise von den Personalverbänden durchgesetzte Forderung, dass das ausländische Lokpersonal im Transit gleich entschädigt wird wie ihre Kollegen bei den Staatsbahnen, verteuert den Schienengüterverkehr. Analoge Forderungen von Piloten oder Chauffeuren sind mir nicht bekannt.

4.  Handlungsbedarf

Aus Sicht des Verfassers besteht dringender Handlungsbedarf. Nachstehend ein paar Vorschläge, wie man der Sackgasse entrinnen könnte:

a.  Neues Problemverständnis

Der Schienengüterverkehr ist ab Entfernungen zwischen 300 und 500 Kilometern auf dem Festland das effizienteste Verkehrsmittel. Diese Distanzen werden im nationalen Güterverkehr nicht erreicht. Güterverkehr auf der Schiene ist immer internationaler Verkehr und muss aus dieser Warte betrachtet werden. Die EU will den Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene stark erhöhen, und die Schweiz muss hier ihren Beitrag leisten.

Die Schweiz muss eine für den Transitgüterverkehr reservierte Achse bereitstellen. Gemäss dem Beitrag „NEAT – Wege aus dem Malaise“ muss die Achse dem heutigen Lauf des Gros der Güterzüge folgen, und zwar von Basel über Brugg und Otmarsingen zum Gotthardbasistunnel und von Biasca der A2 folgend an den Fuss des Monte Ceneri und von hier direkt nach Chiasso oder Como.

Die immensen Kosten dieser teilweise neu und umweltschonend zu bauenden Strecke – Tieflegung und ohne Steigungen – müssen von der EU substantiell mitfinanziert werden. Die EU tut das auch bei wohlhabenden Mitgliedstaaten bereits heute.

Achsen

b.  Wirtschaftlichkeit und Qualität

Der Güterverkehr auf der Schiene ist so zu organisieren, dass er auch ohne Restriktionen für den Strassentransport prosperieren kann. Er muss kostengünstiger, rascher und zuverlässiger werden. Das betrifft die gesamte Transportkette vom Lieferanten zum Empfänger.

c.  Masshalten beim Personenverkehr

Der Personenverkehr muss zur Gewinnung möglichst vieler Trassen für den Güterverkehr in den Basistunnels auf den 30-Minutentakt verzichten. Mögliche Frequenzsteigerungen sind durch Zusatzzüge aufzufangen. An Spitzentagen am Wochenende sind Ausnahmen möglich.

Ebenso dringend ist die Angleichung der Geschwindigkeiten der Personenzüge und der Güterzüge im Gotthard Basis-Tunnel GBT. Nur so kann die Kapazität des Tunnels ausgeschöpft werden. Ein Vergleich aus Europa: Die Eurostarzüge erreichen zwischen Paris und Calais 300 km/h und verkehren zwischen Folkestone und London mit 250 km/h. Im Ärmelkanaltunnel hingegen fahren sie mit 160 km/h.

Die Absicht der SBB AG, die Personenzüge im GBT mit 200 km/h oder 250 km/h ist in Anbetracht der Zweckbestimmung des Tunnels – Verlagerung des Güterverkehrs – in höchstem Mass verantwortungslos und eine flagrante Missachtung des Volkswillens. Das Bundesamt für Verkehr BAV ist aufgerufen, die Zuständigen bei den SBB zur Räson zu bringen.

d.  Neue Technologien und Einsatzkonzepte

Durch den Einsatz von neuen Technologien sind überlange und/oder sich in kurzen Abständen und auf Sicht folgende Güterzüge zu ermöglichen.

Transitzüge müssen ohne nennenswerten Grenzaufenthalt verkehren. Ein Transitgüterzug muss die Schweiz in höchstens vier Stunden durchqueren.

e.  Eigentumsverhältnisse

Die Eigentumsverhältnisse der Güterbahnen sind vorbehaltlos zu überdenken. Die teilweise maroden oder domestizierten Staatsbahnen haben gegenüber den florierenden und politisch einflussreichen Strassentransporteuren einen nicht wettzumachenden Wettbewerbsnachteil. Zudem können die hoch verschuldeten europäischen Staaten die Mittel für die überfälligen Investitionen in den Schienengüterverkehr kaum mehr aufbringen.

Güterbahnen – das haben Beispiele unter anderem aus Nordamerika eindrücklich gezeigt – können in ihren Kernmärkten hoch profitabel sein und die Strassen massiv entlasten. Der Weg für Europa ist vorgezeichnet.

f.  Güterverkehrskonzept

Die am Güterverkehr auf der Schiene interessierten Kreise und Personen würden ihre Anstrengungen besser auf eine nationale und mit quantitativen Vorgaben unterlegte Güterverkehrsstrategie konzentrieren, als ihre Kräfte auf einem aus der Gesamtschau sekundären Problem verpuffen zu lassen. Der Nutzen wäre ungleich höher.

5.  Folgerungen

Die Frage nach dem Nutzen des Alpenschutzartikels blieb offen und ist der Antwort durch die Leser vorbehalten. Vielen Dank jedoch für das diesen Überlegungen entgegengebrachte Interesse.

 

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